Gastfreundschaft im Pankisi-Tal

Ein paar Wochen vor unserer Abreise entdeckte Rosa Maria eher zufällig den Band „Georgische Erzählungen“ aus der Manesse-Bibliothek unter meinen Büchern. Von den Geschichten beeindruckte sie tief „Mindia, Chogias Sohn“. Da wird erzählt, wie ein junger Mann aus Chewsuretien, ein georgischer Christ, Freundschaft mit den Erzfeinden, den (muslimischen) Khisten des Nachbartals, schliesst. Es ist eine sehr traurige Geschichte, doch zeigt sie sehr eindrücklich und bewegend, wie unglaublich wichtig gelebte Gastfreundschaft und Toleranz sind. Sie versuchte herauszufinden, wo sich die Geschichte von Mindia abgespielt haben könnte. Im Internet stiess sie auf die Seite http://www.pankisi.org. Sie las, dass die Khisten Ende des 18. Jahrhunderts aus ihrem Heimatland Tschetschenien über die Berge des Hohen Kaukasus ins Pankisi-Tal auswanderten. Hier lebten sie friedlich mit den ansässigen Georgiern zusammen. Ende des 20. Jahrhunderts kam das Pankisi-Tal in die Schlagzeilen, als Flüchtlinge und bewaffnete Kämpfer aus Tschetschenien bei ihren „Brüdern“ in Georgien Zuflucht suchten. Inzwischen hat sich die Lage beruhigt, einige Flüchtlinge sind zurückgekehrt, andere fanden Asyl in Westeuropa. Ein Teil befindet sich jedoch weiterhin im Pankisi-Tal. Die einheimischen Khisten bemühen sich um die Integration der Kriegsgeschädigten, insbesondere der Kinder, die ihre Eltern verloren haben. Eine Gruppe von Frauen unter der Leitung von Makwala Margoschwili („Badi“) hat vor etwas mehr als 10 Jahren die Vereinigung „Frieden im Kaukasus“ (Marshua Kawkaz) gegründet. Sie wurden vom polnischen Staat unterstützt und haben inzwischen einen gut funktionierenden Agrotourismus organisiert. Diese Konstellation vom Zusammenleben zweier so unterschiedlicher Volksgruppen machte uns neugierig und so beschlossen wir, das Pankisi-Tal kennenzulernen. In Tbilissi stiess unser Vorhaben auf unterschiedliche Reaktionen. Unsere Landlady Dodo war nicht begeistert von der Idee, doch beim Touristenbüro erhielten wir die Auskunft, dass die Lage sicher sei. Wir erhielten einen Prospekt und die Telefonnummer einer der Initiantinnen.

Am Sonntagmorgen (26.9.) machen wir uns mit unseren Rädern in Richtung Pankisi-Tal auf. Wir wollen uns vor Ort ein Bild machen. Der erste Reisetag auf dem Velo ist sehr anstrengend. Wir haben uns auf eine relativ einfache Route eingestellt. Auf der Karte ist die ganze Strecke über Gldany, Tianeti und Akhmeta als Asphaltstrasse eingezeichnet, mit nicht zu grossen Höhenunterschieden. Doch weit gefehlt! Der Strassenbelag wird immer schlechter, bald fehlt er ganz, dazu gibt es viele Schlaglöcher. Die Hügel werden mit zunehmender Distanz immer höher. Anfangs haben wir ein wenig Nieselregen, später bessert sich das Wetter. Trotz der angenehmen Temperatur sind wir bald schweissgebadet. Ein Trostpflaster ist der spärliche Verkehr. Mit viel Glück finden wir unterwegs in Khevsurtsopeli einen Laden, wo wir einkaufen können. Kurz vor Einbruch der Nacht suchen wir einen Platz für unser Zelt. Grosse Auswahl haben wir nicht, da die Gegend landwirtschaftlich genutzt wird. Ausserhalb von Chekuraantegori, ziemlich nahe an der Strasse, bauen wir unser Nachtlager auf. Reto stellt das Zelt auf, Rosa Maria improvisiert ein Reisgericht mit frischen Tomaten und Spiegeleiern. Der Benzinkocher hat so seine Tücken: erst gibt es erschreckend hohe Flammen und dann einen völlig verrussten Pfannenboden. Doch das Nachtessen schmeckt uns sehr. Wir schlafen ruhig, gut und tief. Wir haben auch allen Grund dazu nach mehr als sieben Stunden in die Pedale treten und über 1400 Höhenmeter auf knapp 70 km mieser Schotterstrasse.

Am zweiten Tag (Montag, 27.9.) fahren wir auf ähnlich schlechten Strassen weiter über Tianeti und Akhmeta bis Duisi im Pankisi-Tal. Wir sind glücklich, unser erstes Wunschziel erreicht zu haben. Da wir inzwischen eine georgische SIM-Karte besitzen (sie hat uns ganze 2 Lari gekostet, umgerechnet ca. CHF 1.10!), kündigen wir unsere Ankunft telefonisch an, mit den paar Brocken georgisch, die wir inzwischen können. Doch ganz sicher sind wir unserer Sache nicht. Wir bitten Brückenarbeiter um Hilfe und haben grosses Glück. Einer von ihnen hat in Schweden gearbeitet und spricht gut englisch. Er telefoniert sofort für uns und übersetzt. Wir erhalten eine ungefähre Wegbeschreibung zum Haus von Badi und Nata, unseren zukünftigen Gastgeberinnen. Unterwegs werden wir dann noch von zwei finsteren Polizisten angehalten. Sie sind ziemlich unwirsch und wollen wissen, wohin wir wollen. Es gibt viele sehr freundliche, fröhliche Menschen in Georgien, doch manchmal treffen wir auf abweisende, sehr verschlossene oder unbeteiligte, unfreundliche Gesichter. Für uns ist es schwierig, diese Mimik richtig zu verstehen. Aber es können ja nicht alle begeistert winken und „Hello“ rufen, wie dies manchmal die Kinder tun, wenn wir durch die Dörfer fahren.

In Duisi angekommen, fragen wir nach Badi und Nata. Viele Menschen sind auf der Strasse. Eine alte Frau ruft einen Jungen auf einem Fahrrad herbei, dieser geleitet uns durch das Labyrinth der Strässchen bis vor das gesuchte Haus. Die Türe zum Hof wird geöffnet und eine strahlende Frau ganz in schwarz kommt auf uns zu, umarmt uns und geleitet uns ins Haus. Badi ist über 70, ihr Mann ist vor einigen Jahren gestorben. Nata, ihre Schwiegertochter, ist Lehrerin und hat 3 erwachsene Kinder, die in Tbilissi studieren. Ihr Mann Tamaz, Badis Sohn, arbeitet in der Flüchtlingskoordination und ist z.Z. ebenfalls in der Hauptstadt. Wir werden wie alte Freunde willkommen geheissen. Ein üppiges Nachtessen wird aufgetischt, welches unseren nicht unerheblichen Hunger bei weitem übersteigt. Nata kocht vorzüglich. Fast alle Zutaten sind aus dem eigenen Garten. Dazu geniessen wir „schwarzen“ Wein, Eigengewächs von den Reben im Innenhof.

Untergebracht sind wir in einem fürstlichen Zimmer im ersten Stock des Hauses, der ganz für die Gäste reserviert ist. Von unserem Balkon aus sehen wir in die Berge des Hohen Kaukases, welche unser nächstes Ziel sein werden.

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