Letzte Tage in Tbilissi

Bei Dodo sind wir inzwischen so etwas wie Stammgäste. Wir kennen das Haus an der Marjanishvili-Strasse 38 und auch die Leute, die hier ein- und ausgehen. Im Quartier um die Russisch-Orthodoxe Kirche fühlen wir uns fast schon zuhause. Wir wissen, wo die Bäckerei liegt, in der es den ganzen Tag frisch gebackenes Brot gibt, wo das Angebot an Früchten und Gemüse am schönsten ist. Wir erkennen auch die Bettler und Bettlerinnen wieder, die jeden Tag bei der Metrostation stehen, und die Frauen, die Säcklein mit Zitronen verkaufen oder Streichhölzer und Papiertaschentücher anbieten.

Auf der Strasse ist mir in den letzten Tagen eine Frau aufgefallen, die einen dicken Wintermantel trug. Jetzt taucht sie plötzlich bei uns im Innenhof auf. Laut schimpfend und gestikulierend geht sie auf Dodo los. Dodo will ihr von den Trauben und Kaki anbieten, die im Hof wachsen, um sie abzulenken. Doch nun beginnt die Frau, laut fordernd auf Dodo einzuschlagen. Reto und ich sitzen am Gartentisch und verstehen nicht, um was es geht. Dann kommt Dodos Schwägerin dazu, und beiden zusammen gelingt es, die Frau aus dem Hof zu drängen. Später erfahren wir von Dodo die Geschicht dieser Frau. Sie sei aus Abchasien, der Konfliktregion am Schwarzen Meer, geflohen. Sie habe zusehen müssen, wie ihre Tochter im Krieg zwischen Georgien und der abtrünnigen Provinz getötet worden sei. Seither irre sie umher, suche überall nach ihrer Tochter und sei überzeugt, dass diese irgendwo gefangen gehalten werde. Ein Schicksal, in das wir uns auch ansatzweise kaum einfühlen können.

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Meist gehen wir am Abend ins nahegelegene „Canapé“, einem im Vergleich zu den „normalen“ georgischen Restaurants fast feudalen Café. Wir schätzen die zweisprachige Menükarte mit einer Extraseite für die Vegetarier („Lenten“, was eigentlich „Fasten“ bedeutet). Wir profitieren vom schnellen WLAN, um jeweils unseren Blog zu aktualisieren und Fotos hochzuladen. Hier verabreden wir uns am Dienstag mit Tato, dem Italienisch sprechenden Velofahrer, den wir im Velodrom kennen gelernt hatten. Wir trafen ihn zufällig wieder auf der Rustaweli-Avenue (entspricht etwa der Zürcher Bahnhofstrasse oder dem Limmatquai). Tato arbeitet im Finanzcontrolling des georgischen Staates. Er erzählt uns viel Spannendes über Georgien und kann viele unserer Fragen beantworten. Ich spreche ihn auf den Dichter Pshavela an. Er ist ganz gerührt, als er von ihm spricht. Seine Gedichte seien so schön, dass einem die Tränen kommen, sagt er. Die gleichen Worte haben wir vorher schon von Nata gehört. Eigentlich reagieren alle, die wir auf Pshavela ansprechen, so. Für uns ist es unvorstellbar, dass in der Schweiz jemand mit solcher Begeisterung und mit so vielen Gefühlen auf einen unserer „Nationaldichter“ reagieren würde.

Von den Museen in Tbilissi interessiert uns am meisten das historische Stadtmuseum, das in einer alten Karawanserei untergebracht ist. Beim Betreten des Gebäudes kommen wir ins Träumen und Schwärmen. Wir sehen uns zurückversetzt in Zeiten, in denen auf der Seidenstrasse Händler zwischen Ost und West unterwegs waren. Der Innenhof erinnert an Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Doch dann kommt die grosse Enttäuschung: Das Museum mit den Tausenden von alten Fotos wird gerade renoviert und ist daher geschlossen. Schon wieder ein Grund, um nach Tbilissi zurückzukehren!

Am Mittwochabend treffen wir Melsi, die Tochter von Nata, die Enkelin von Badi. Mit ihr lernen wir die dritte Generation dieser starken, schönen Frauen aus dem Pankisi-Tal kennen. Sie hat uns Geschenke von zuhause mitgebracht: Maismehl, Baumnüsse und Haselnüsse. Melsi studiert politische Wissenschaften und in ihrer Masterarbeit hat sie sich auf die Kaukasus-Region spezialisiert. Die Zeit vergeht im Flug. Obwohl uns gut 40 Jahre trennen, hätten wir Stoff für viele weitere abendfüllende Gespräche mit der liebenswürdigen und intelligenten jungen Frau, die zu unserer Erleichterung sehr gut Englisch spricht.

Der Donnerstag ist unser letzter Tag in Tbilissi. Reto hat die Velos wieder sorgfältig verpackt und auch unser restliches Gepäck ist bereit. Doch wo die ca. 5 kg Lebensmittel, die wir aus dem Pankisi-Tal erhalten haben, verstauen? Und wieviel wird uns all das Übergewicht kosten? Wir sind auf Schlimmes gefasst. Aber vorerst freuen wir uns auf ein paar letzte Sternstunden in der Altstadt. Zwischen Sioni-Kathedrale, Synagoge und Moschee befindet sich das alte Badehaus. Nach 850 km im Sattel und der Bewältigung von 10’500 Höhenmetern wollen wir uns richtig verwöhnen lassen. Es ist ein besonderes Erlebnis, unbegrenzt heisses Wasser zur Verfügung zu haben. Es sprudelt unerschöpflich ca. 45° C heiss aus den Mineralquellen Tbilissis. Männer und Frauen haben getrennte Bereiche. Wie Reto erzählt, sind es auch auf seiner Seite mehrheitlich Ältere, welche das Badhaus aufsuchen. Wir gönnen uns eine Massage. Zusammen mit Eintritt, Badetuch und Sandalen kostet das weniger als umgerechnet 10 Franken. Wie neugeboren fühle ich mich nach dem Besuch im Badehaus.

Nach einem letzten Spaziergang durch die Altstadt gehen wir zu „Prospero“, der Buchhandlung mit dem grössten fremdsprachigen Angebot. Ich suche mir ein georgisches Kochbuch aus und male mir aus, wie ich Natas Spezialitäten zuhause ausprobieren werde. Jetzt fehlen nur noch die georgischen Gewürze. Die wichtigsten finde ich in einer Spezereienhandlung in der Nähe des Blumenmarktes. Auf dem Rückweg zu Dodo schlendern wir über den Flohmarkt. Wir erstehen ein paar alte Münzen aus Sowjetzeiten und ich freue mich über einen Federhalter mit einer schön ziselierten, vergoldeten Feder. Langsam schleicht sich eine gewisse Melancholie ein, gepaart mit Plänen einer Rückkehr nach Georgien. Doch auch Freude macht sich breit: In weniger als einem Tag sind wir wieder zuhause in unserer Wohnung, können schon bald Familie und Freundinnen und Freunde wiedersehen und all die Vorteile geniessen, die wir – trotz aller Reiselust und ungebrochenem Abenteuergeist – in der Schweiz so geniessen.

Um Mitternacht fährt uns Dodos Schwager mit unserer ganzen Bagage zum Flughafen. Nachdem wir eine Waage gefunden und den grossen Mehlsack zusammen mit einer paar anderen Schwergewichten (Papier…!) ins Handgepäck verstaut haben, stellen wir erleichtert fest, dass wir die Toleranzgrenze von 10% beim Gewicht ganz knapp unterschreiten. Dann schlagen wir die Zeit bis zum Check-In um drei Uhr tot. Der Flug ist um fünf. Diese letzten zwei Stunden verbringen wir mit Schlangestehen vor der Pass- und Sicherheitskontrolle. Man gewinnt den Eindruck, dass die Georgier mit diesen Aufgaben völlig überfordert sind. Als ich endlich dran bin, muss ich mein geliebtes kleines Sackmesser opfern, das sich noch in meiner Hosentasche befand. Mein Fehler! Wir fürchten schon, den Flug zu verpassen. Doch es reicht in letzter Minute. Der Flug mit Zwischenlandung in Warschau wird lange und zermürbend. Schlimmer als jeder Anstieg mit dem Velo. Wie gerne würde ich stattdessen nochmals den Kreuzpass hochfahren! Ich habe Kopf- und Nackenschmerzen. In Kloten geht dann alles sehr schnell. Die Velos und unser ganzes Gepäck kommen unbeschädigt an. Wir verfrachten alles in den nächsten Schnellzug nach Winterthur, wo uns ein freundlicher Taxichauffeur  nachhause bringt.

So geht unser Georgien-Abenteuer zu Ende. Doch wir träumen schon von unserer nächsten Reise…

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