Unterwegs im Wakhankorridor

Obwohl ich mich auf die Weiterfahrt durchs Wakhantal freue, fällt mir der Abschied von Lalmo schwer. Sie war uns in den letzten Tagen eine so herzliche und aufmerksame Gastgeberin und liess uns in vielen Kleinigkeiten spüren, wie sehr sie sich über unsere Rückkehr nach einem Jahr freute. Auch ihre Tochter und die Schwester aus Moskau (die mir letztes Jahr ein Kleid nähte) behandelten uns wie Freunde der Familie.

Es ist Sonntagmorgen und wir sind früh unterwegs. Es ist noch ziemlich kühl. Da das Tal bis Ishkashim nach Süden ausgerichtet ist, fahren wir lange im Schatten. Die Strasse ist asphaltiert, in den nächsten Tagen aber mit immer grösseren Abschnitten, wo der Belag fehlt oder durch groben Schotter ersetzt ist. Teehäuser gibt es hier leider keine mehr.

In den Dörfern findet man höchstens einen Laden, wo wir Mineralwasser kaufen, manchmal einen Fruchtsaft. Pausen machen wir am Strassenrand, suchen bequeme Steine, um uns zu setzen, meist unter einem Baum. Wir gewinnen nur langsam an Höhe, und doch ist die Fahrt recht anstrengend. Die Dörfer liegen jeweils am Hang über dem Panj, dem Grenzflus zu Afghanistan.

Abendstimmung über Afghanistan

Die steilen Anstiege sind nicht als Schikane für die Velofahrer angelegt, sondern haben meiner Ansicht nach die Funktion, dass rechts und links davon das Wasser aus der Siedlung zügig abfliessen kann. Meist gibt es oberhalb der Dörfer eine Quelle, oder die Wohngebiete liegen an einem Bergbach, von wo sie das Frischwasser beziehen. Für die Bewässerung der Gärten und Felder wird das Abwasser verwendet, oft auch zum Waschen. Die Latrinen befinden sich meist am entferntesten Ende des Gartens oder am Rand des Dorfes. Fliessendes Wasser im Haus haben nur die wenigsten, und wenn, dann ziemlich improvisiert.

Die erste Nacht verbringen wir in einem sehr einfachen Hotel, das neben einem Sanatorium mit Mineralquellen steht. Da gibts sogar einen Fernseher im Zimmer. Ob er funktioniert hätte, haben wir nicht ausprobiert, doch die Dusche mit einem Rinnsal an heissem Wasser nutzen wir gerne.

Für die zweite Nacht lassen wir uns von einem Mädchen am Strassenrand überreden, in ihr Haus zu kommen. Ihre Mutter führt eine bescheidenen Mexmonkhona. Übersetzt heisst das “Haus für Gäste”. Als ich frage, ob ich mich waschen könne, begleitet mich die Wirtin durch den Hof in ein Badehäuschen aus Stein, das in den Felsen gehauen ist. Ein Ofen steht darin, auf dem man Wasser wärmen könnte. Ich ziehe mich aus, versuche auf dem schrägen Boden das Gleichgewicht nicht zu verlieren, hänge meine Kleider an einem Nagel auf und fange an, mich mit meinem Waschlappen zu waschen. Die Frau gibt mir immer wieder lauwarmes Wasser aus dem mitgebrachten Kessel, spült mich zum Schluss mithilfe einer Konservendose von Kopf bis Fuss ab und hilft mir dann beim Trocknen und Anziehen. Nach einem langen Tag auf staubigen Strassen ist eine Waschgelegenheit eine Wohltat, die man sich zuhause kaum vorstellen kann.

Links unsere Wirtin, rechts eine Nachbarin

Einer der vielen “Wallfahrtsorte” im Wakhantal. Reto spricht mit einem einheimischen Führer, der vor ein paar Jahren in die Schweiz eingeladen wurde.

Der dritte Tag erwartet uns mit einer unangenehmen Überraschung: An Retos Vorderrad ist über Nacht die Luft entwichen. Das heisst, Rad entfernen, Pneu auf Fremdkörper und Schadstellen untersuchen, Schlauch entfernen und wieder pumpen, Loch suchen, Gummi vorbereiten, Flick auftragen, warten, Schlauch und Pneu auf Felge montieren und Rad an Gabel befestigen, fertig pumpen, Druck messen. Ich bin so froh, dass Reto sich um die Velos kümmert. Alleine wäre ich verloren. Ich übernehme gerne ein paar kleine Mehrarbeiten mit der Wäsche und dem Essen.

Wir sind an diesem Tag beide nicht so recht in Form, ausnahmsweise fühlt sich diesmal Reto richtig schlapp. Wir kommen auf der schlechten Strasse nicht so recht vorwärts, immer wieder erwarten uns steile Anstiege auf sandigem oder lockerem Belag.

Unterwegs, kurz vor Ptup

Das Dorf Ptup, in welchem wir um die Mittagszeit eine Mexmonkhona ansteuern wollen, verpassen wir, und das nächste Dorf mit Schlafgelegenheiten ist hoch oben am Berg gelegen. Zum Glück verpassen wir diesen Abzweiger ebenfalls. Zurück wollen wir trotz Müdigkeit nicht, nur vorwärts. So erreichen wir nach nur gerade 38 km in fast 4 Stunden das Dorf Yamg. Ein Homstay ist an der Strasse signalisiert. Mit grosser Erwartung suchen wir es auf, und wir werden nicht enttäuscht. Hinter einem blauen Tor verbirgt sich ein schöner Gemüsegarten mit einem grossen alten Pamirhaus und angebauten Gästezimmern. Es hat eine Dusche (zwar nur mit kaltem Wasser) und eine richtige Toilette. Die Leute sind freundlich, einer der Söhne spricht recht gut englisch. Der Vater ist Leiter des Dorfmuseums, welches dem Sufi-Philosophen, Dichter, Musiker und Astronomen Mubarak Kadam Wakhani gewidmet ist. Wir sind erstmal froh, uns umziehen und waschen zu können und uns in einem kühlen Zimmer, das uns ganz alleine gehört, auszuruhen.

Da drüben ist schon Afghanistan

Doch dann passiert mir etwas völlig Unerwartetes: Als ich die im Vorraum deponierte Lenkertasche aufheben will, sticht mich eine Hornisse. Der Finger schwillt rasch an, doch ich messe dem Vorfall keine weitere Bedeutung bei. Wir ruhen uns erst mal aus und schlafen, obwohl es erst Mitte Nachmittag ist. Erst als ich dann ein paar Stunden später unter der Dusche stehe und einen starken Juckreiz der Kopfhaut spüre und überall am Körper rote Flecken entdecke, mache ich mir Sorgen. Die Flecken werden immer grösser und jucken. Es ist fast nicht zum Aushalten. Reto behandelt mich mit Fenistil. Doch es hilft nichts. Zum Glück fällt mir ein, dass ich als Notfallmedikament gegen Höhenkrankheit Cortison in meiner Reiseapotheke habe. Meine Ärztin hat mir gesagt, dass dieses auch bei allergischen Reaktionen auf Insektenstiche oder bei Sonnenallergien helfen kann. Doch ich bin nicht sicher, ob dieser Ausschlag jetzt wirklich durch den Stich der Hornisse verursacht wurde. Da ich meine Hausärztin nicht erreichen kann, versuche ich es beim 24-Stunden-Telefon der Krankenkasse. Bis die Person am Telefon alle meine Angaben beisammen hat und ich unzählige Fragen beantwortet habe, bin ich mit meinen Nerven ziemlich am Ende. Weitere Minuten verbringe ich am Telefon mit Warten, da auch noch ein Arzt zu meinem Fall konsultiert werden müsse. Doch dann erhalte ich den Bescheid, dass ich vom mitgebrachten Prednison sofort 50 mg nehmen solle, morgen dann noch die Hälfte und übermorgen einen Viertel. Wenn es nicht rasch bessere, “solle ich halt einen Arzt aufsuchen”. Ich bin mehr oder weniger beruhigt, nehme das Medikament und warte auf Besserung.

Für morgen haben wir schon Pläne gemacht: wir wollen die heissen Quellen von Bibi Fatima, welche gut 500 m über dem Tal gelegen sind, aufsuchen, und am Nachmittag vielleicht das Museum besichtigen. Beim Nachtessen, das mich ein wenig ablenkt, einigen wir uns mit einem Verwandten der Familie über den Preis für die Fahrt zum Bad. Er hat einen alten russischen Jeep, den er vor 10 Jahren in Afghanistan gekauft habe.

Obwohl ich noch keine Wirkung des Medikamentes spüre, kann ich rasch einschlafen. Als ich erwache, ist der Ausschlag – oh Wunder! – völlig verschwunden und der Juckreiz ebenfalls. Ich fühle mich wahnsinnig erleichtert und freue mich jetzt auf die heissen Quellen, auf deren Besuch ich sonst hätte verzichten müssen.

Nach einem feinen Frühstück mit Milchreis und Zimt werden wir um 9 Uhr abgeholt. Mit uns kommt der Vater, der zusammen mit Tochter und deren Kind in die Gesundheitsstation des Nachbardorfes fährt. Die Frau unseres Wirtes begleitet uns zu den heissen Quellen. Ich bin froh, dass sie dabei ist, so muss ich mich nicht alleine zurecht finden. Die Grotte, in welcher das Tauchbecken liegt, wird direkt von einem mächtigen Bergbach mit dem heissen Wasser gespeist. Dieses strömt aus verschiedenen natürlichen Öffnungen, welche wie Duschen benutzt werden können. Die Nische ist von alten Schwefelablagerungen in gelben und grünen Schattierungen überzogen und sieht wie ein kostbarer alter Emailschmuck aus. Das Wasser schmeckt sehr frisch und angenehm. Mir bereitet es grosse Freude, mich unter den heissen Wasserstrahl zu stellen oder im Becken unterzutauchen. Wenn man aufrecht im Becken steht, spürt man die kühle Bergluft.

Auf dem Rückweg machen wir nochmals Fotos von der Burg, auf die wir vorher mit unserem Fahrer geklettert waren. Die Überreste von Lehm- und Steinmauern und die runden Wachtürme lassen die imposante Anlage aus dem 12. Jahrhundert erahnen.

Als wir am Nachmittag durchs Dorf zum Museum gehen, kommt Regen auf, und es wird merklich kühler. Ich bin froh, sind wir nicht irgendwo mit dem Velo auf der Strasse unterwegs. Wir warten im Museum das Ende des Regens ab. Das Museum ist einem Sufi-Gelehrten gewidmet, der am Ende des 19. Jahrhunderts im Dorf Yamg gelebt hat. Er hat einen sehr toleranten ismaelitischen Islam gelehrt und war ein vielfach begabter Dichter und Musiker.

Bis morgen sollte das Wetter wieder besser sein, und wir haben nur noch einen kurzen Weg bis Langar vor uns. Dort beginnt dann der Aufstieg zum Kargush-Pass, der mich sicher bis zum letzten fordern wird. Gemäss Angaben von anderen Veloreisenden sind die 1500 Höhenmeter über etwa 70 km bis zum Pass über sehr steile und sandige Passagen zu erkämpfen. Doch Nicole, die ich von unserer letztjährigen Reise kenne, hat mir mit einer ausführlichen Wegbeschreibung per SMS Mut gemacht. Nun erwarte ich mit viel mehr freudigen als kritischen Gefühlen unsere nächste Passfahrt.

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Über den Khaburabot an den Fuss des Pamir

Im Teehaus in Kalaihusseini, wo wir unser Zelt für die Übernachtung aufstellen, treffen wir drei sehr sympathische junge welsche Radfahrer. Wir haben sie bereits bei unserem Jeepausflug nach Tavildara gekreuzt. Sie sind ebenfalls unterwegs in den Pamir. Als wir am nächsten Morgen knapp nach Tagesanbruch aufbrechen sind, sie noch nicht aufgestanden. Wir nehmen die Strasse zum ca. 1500 m höher gelegenen Khaburabot-Pass unter die Räder. Schon kurz nach Beginn der Fahrt sind wir überrascht, wie steil die Strasse streckenweise ist. Von letztem Jahr her hatten wir den Pass als relativ gut fahrbar in Erinnerung – nur hatten wir damals bereits ein paar Tausend Kilometer Weg und mehrere 10’000 Höhenmeter in den Beinen und waren an die Hitze gewohnt. Als wir nach etwa einem Drittel des Aufstiegs unsere dampfenden Körper an einem Bergbach abkühlen, ziehen unsere Landsgenossen in lockerem Tritt an uns vorbei. Zum Trost versichern sie uns ihre Bewunderung, dass wir in unserem Alter noch solche Reisen unternehmen.
Gegen Abend stehen dann auch wir auf dem Pass. Auf den 3250 m Höhe bläst ein ziemlich kühler Wind, so dass wir die Feier unseres Erfolgs kurz gestalten, uns warm anziehen und auf die Abfahrt machen. Kurz darauf versorgen wir uns an einem sauberen Bergbach noch mit Wasser, da das nächste Dorf etwa zwei Fahrstunden entfernt liegt. Als wir dann kurz darauf ein kleines ebenes Stücklein Wiese bei einem Bach entdecken, beschliessen wir spotan das Zelt aufzustellen und so endlich wieder mal eine kühle Nacht an einem idyllischen Ort zu verbringen.
Zelten in der Kühle des Khaburabot

Am nächsten Morgen tun wir als ob wir in den Ferien wären, nehmen uns ausführlich Zeit fürs Frühstück und machen uns mit betonter Langsamkeit an den Aufbruch. Nach der Anstrengung von gestern finden wir eine kleine Belohnung angebracht und zudem verspüren wir auch keine grosse Lust wieder in die Bruthitze des Tieflandes zurückzukehren. Gegen Mittag starten wir dann doch auf die Abfahrt ins Panj-Tal. Der Panj ist der Quellfluss des Amu Darya, aus der altgriechischen Geschichte bekannt unter dem Namen Oxus. Der Panj ist heute auf mehreren hundert Kilometern Grenzfluss zwischen Tadschikistan und Afghanistan. In Qala-i Khumb treffen wir auf den Fluss und von dort geht es 240 km talaufwärts nach Khorog, der Hauptstadt des Pamir. In diesem Talabschnitt verläuft der Fluss mehrheitlich in einer engen, wilden Schlucht umgeben von über 4000 m hohen schneebedeckten Bergen. Nur auf tadschikischer Seite hat es eine breitere Fahrstrasse, auf afghanischem Gebiet ist es ein Saumpfad der teilweise hoch hinauf in die Bergflanken führt, um die fast senkrecht ins Flussbett abfallenden zu umgehen. Es ist kaum vorstellbar wie in früheren Zeiten die griechischen Heerscharen auf ihrem Eroberungsfeldzug durch diese Gegenden zogen.
Auch für uns ist die Fahrt nach Khorog trotz Strasse kein Honiglecken. Wo die Strasse einst asphaltiert war, ist nur noch ein löcherübersäter Flickenteppich übriggeblieben. Die nichtasphaltierten Abschnitte sind teilweise sandig oder von grobem Schotter bedeckt. Und immer gehts rauf und runter, vor allem die Zufahrten zu den hoch über dem Fluss gelegenen Dörfer weisen giftige, kräfteraubende Steigungen auf. Ausser in Flussnähe, wo die reissenden Wasser des Panj die Luft ein wenig abkühlen, ist es drückend heiss. Dank der steilen Talwände gibt es glücklicherweise am Morgen und Abend längere Strassenabschnitte, die im Schatten liegen und so ein bisschen Milderung von der segnenden Sonne verschaffen. Wir schaffen diese Strecke in drei Etappen. Zwei Mal übernachten wir in Unterkünften, einmal davon in einem skurril anmutenden Motel mit Swimmingpool, das heute verlottert ist und nur noch ganz wenige, schmuddelige Zimmer anbietet. Zelten ist wegen der Topographie des Tales schwierig und auch etwas riskant, da die Strasse und das umgebende Gelände während dem tadschikischen Bürgerkrieg in den neunziger Jahren vermint wurde. Als wir neben einer schönen Wiese am Ufer des Panj zwei ältere Bauern sehen, bitten wir sie in unserem rudimentären Russisch um Erlaubnis, dort das Zelt aufzustellen. Spontan stimmen sie zu und bieten uns auch an, doch zu ihnen nach Hause zu kommen. Doch wir sind froh, in der Intimität unseres Stoffhauses übernachten zu können. Beim Aufstellen des Zeltes beteiligt sich einer der Männer mit grosser Geschicklichkeit und geht uns anschliessend noch Wasser aus einem sauberen Gebirgsbach holen. Dann erzählt er mir ein bisschen von seinem einfachen, aber gesunden Leben in dieser landschaftlich so wilden und wunderschönen Gegend, derweilen Rosa Maria das Nachtessen kocht (hic!).


Radeln entlang des Panj


Kornernte auf afghanischer Seite


Unser gastfreundlicher Bauer


Teehaus mit stolzer Besitzerin

In Khorog können wir wieder in einer uns vom Vorjahr bekannten Herberge logieren. Es ist kaum erklärbar, wie beglückend der relative Luxus eines anmachenden Zimmers, einer sauberen Toilette, einer Dusche und abwechslungsreichen Essens nach fast zehn Tagen „primitiven“ Lebens sein kann. Dieser Wechsel zwischen Entbehrungen und Erfüllung von einfachen Bedürfnissen macht sicher diese Art von Reisen so attraktiv und befriedigend für uns. Sogar kulturell kommen wir auf unsere Rechnung, findet doch in diesen Tagen in Khorog ein Festival mit Volksmusik der Bergvölker aus Tadschikistan und der umliegenden Länder statt.

Am Festival von Khorog

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Unterwegs zu den hohen Pässen

Nach unserer letztjährigen Reise durch Zentralasien, haben wir den Winter zuhause verbracht, Familie und Freunde getroffen, das kulturelle Angebot in Winterthur genutzt und in Arbeitsgruppen angefangen, unser künftiges Leben im Mehrgenerationenhaus zu gestalten. Im Frühling haben wir lange schöne Veloferien in Portugal und Spanien verbracht.

Und jetzt sind wieder unterwegs. Am 30. Juni 2012 sind wir mit Sack und Pack mit der Bahn nach Frankfurt a.M. gereist, von wo es einen direkten Flug mit der Somoni Air nach Dushanbe gibt. Der Flug gestaltet sich problemlos, bloss beim Warten auf das Gepäck brauchn wir ziemlich Geduld. Doch es kommt alles an, die in Stofftaschen verpackten Velos sogar als erstes. Die Zollkontrolle können wir in schweigendem Einverständnis mit der Aufsicht umfahren. Was wäre das für eine Übung gewesen, von den fertig bepackten Rädern jedes Gepäckstück wieder zu lösen und einzeln durch den Scanner zu geben. Glück gehabt! In den frühen Morgenstunden fahren wir durch die uns vom letzten Sommer bekannten Strassen der tadschikischen Hauptstadt. Wir werden von Christine erwartet, einer französischen Radreisenden, die seit einem Jahr für eine NGO hier arbeitet. Sie teilt mit ein paar Leuten in der Nähe des botanischen Gartens ein Haus. Wir haben sie über das Gastfreundschaftsnetzt der Warmshowers kennengelernt. Sie ist das einzige Mitglied in Tadschikistan. Wir freuen uns, dass wir ihr als kleines Entgegenkommen Schwalbe-Schläuche für ihre nächste Veloreise mitbringen können. Beim gemeinsamen Frühstück lernen wir uns ein wenig kennen. Christine unterstützt die Leute in abgelegenen Dörfern im Norden Tadschikistans beim ressourcensparenden Feuern und Kochen, beim Gemüseanbau in kleinen Treibhäusern und beim Herstellen von guter Gartenerde mit Kompost. Audrey, eine Mitbewohnerin von ihr, arbeitet in einer NGO, welche Eltern von behinderten Kindern in einer Art Selbsthilfeorganisation unterstützt. Ich erlebe es immer als bereichernd, Menschen mit so grosser Begeisterung und Einsatzfreude kennenzulernen. Sie nehmen viel Entbehrung auf sich und müssen gut mit Enttäuschungen, Rückschlägen und Misserfolgen umgehen können.

Am Nachmittag besuchen wir das Antikenmuseum, das wir letztes Jahr verpasst haben. Es ist berühmt für eine 16 m lange, liegende Buddhafigur aus dem Süden Tadschikistans. Sie befindet sich in einem halb abgedunkelten Raum und strahlt eine tiefe Ruhe aus. Eine Angestellte des Museums kauert am Boden in einer Ecke und wacht aufmerksam über das Verhalten der Besucher. Fotografieren ist leider verboten, und Postkarten kann man auch keine kaufen. Schade.

Wieder unterwegs in Tadschikistan

Am Montag gehen wir Reiseproviant einkaufen und am Dienstag fahren wir früh aus der Stadt heraus. Den Weg kennen wir noch vom letzten Mal, und es ist erstaunlich, an wieviele Stellen wir uns erinnern. Am ersten Tag kommen wir nicht sehr weit. Für mich ist wichtig, dass wir es langsam angehen. In Faizobad essen wir in einem Park ein spätes Mittagessen und beschliessen, im dortigen Hotel zu übernachten.

Unterwegs halten wir alle paar Stunden in einer Chaikhona und trinken Tee.

Am zweiten Tag ist es noch heisser und noch anstrengender. Die Temperaturen gehen gegen die 40°C. Ich bin wahrscheinlich noch von der Antibiotikabehandlung von letzter Woche geschwächt und noch überhaupt nicht an die Hitze gewöhnt. In Obi Garm („heisses Wasser“) kaufe ich auf dem kleinen Basar ein paar Gemüse für das Nachtessen, und wie schon letztes Jahr gibt es alles geschenkt. Trotz langem Insistieren will der Mann mit dem langen weissen Bart partout kein Geld für Rüebli, Kartoffeln, Zwiebeln, Tomaten, und am Schluss lässt er mir durch einen Buben noch ein paar Brote und Knoblauch zum Velo bringen.

Interessante Felsformationen vor Tavildara

In Nurobod halten wir bei einer „Mechmonkhona“ (Herberge), wo man essen und schlafen kann.

Die Familie mit dem behinderten Mädchen

Sie wird von einer Frau geführt, deren Mann in Russland arbeitet und der den Sommer zuhause verbring. Ich rüste meine Gemüse und kann den Eintopf in der Küche auf einer rotglühenden Spiralkochplatte garen. Wir legen unsere Schlafsäcke auf einem Teebett im Garten aus. Ein behindertes Mädchen bleibt lange bei mir. Es ist 15 Monate alt und kann sich nicht auf den dünnen Beinchen halten. Die Mutter fragt, ob ich Ärztin sein, ob ich das Kind nicht untersuchen könnte. Es tut mir so leid, dass ich überhaupt nicht helfen kann. Als mir die Mutter die Kleine in die Arme gibt, ist sie sehr schreckhaft und scheu. Doch als ich zu summen und leise zu singen anfange, schmiegt sie sich an mich und fängt erst wieder zu wimmern an, wenn ich mit dem Summen aufhöre. Die einzige Melodie, die mir in den Sinn kommt, ist seltsamerweise „Ein Männlein steht im Walde, ganz still und stumm“. Nach ein paar Versuchen bringe ich sogar den ganzen Text zusammen. Das Lied wird mich noch ein paar Tage als Ohrwurm begleiten und mich immer wieder an das kleine Kind in meinen Armen erinnern, von dem ich nicht einmal den Namen weiss.

 

Eindrückliche Flusslandschaft

Wir sind jetzt jeden Tag etwas länger und weiter gefahren und haben auch schon viele Höhenmeter erklommen. Es geht immer wieder rauf und runter, und wir gewinnen nur langsam an Höhe. Am dritten Tag stellen wir zum ersten Mal das Zelt auf. Wir haben einen idyllischen Platz an einem See gefunden. Leider konnten wir unterwegs nirgends Gemüse einkaufen, und so gibt es zum Znacht nur Penne mit ein wenig Olivenöl. Zum Dessert gibts ein paar getrocknete Kirschen aus Pakistan (die ich aus der Schweiz mitgebracht habe). Vor dem Schlafen tauchen wir ins kühle Wasser und spülen den Staub und Schweiss ab.

Lebensmittelgeschäft in Tavildara

Gegen Abend des vierten Tag erreichen wir den langen Anstieg zum Kaburabot-Pass. Wir sind recht gut vorwärts gekommen und haben zum dritten Mal hintereinander knapp 1000 Höhenmeter gemacht. Doch als wir uns in Kalaihussein für das Nachtessen eindecken wollen, stelle ich mit Schrecken fest, dass mein Portemonnaie fehlt. Ich habe es zum letzten Mal am Mittag gebraucht, als wir kühles Mineralwasser in Tavildara einkauften. Natürlich habe ich nicht alles Geld drin und nicht alle Bankkarten, doch der Schreck sitzt trotzdem tief. Was soll ich bloss machen…? Ich kann mich nicht erinnern, ob ich es im Laden vergass oder davor beim Einpacken verlor. Wir waren – wie meist in einem Dorf – umrundet von neugierigen Kindern, die unsere Velos bestaunten. Ob sie mein Portemonnaie gefunden haben…? Oder ob es vielleicht jemand auf einem Polizeiposten oder bei der Gemeinde abgegeben hat? Wir sollten so rasch als möglich zurück in dieses Dorf. Wir erkundigen uns nach einem Taxi (in dieser Gegend ist jedes Auto ein Taxi, und jeder Fahrer ist froh, wenn er sein Fahrzeug füllen und ein paar Somoni verdienen kann) und finden einen jungen Mann mit einem Jeep, der ins Tal fährt und noch 2 freie Plätze hat. Wir müssen unverhältnismässig viel bezahlen (250 Somoni im Vergleich zu etwa 20 Somoni, welche wir pro Person für eine einfache Übernachtung ausgeben), doch wir haben keine Wahl. Die Velos und das ganze Gepäck können wir in einem Ladenlokal einstellen, bis wir wieder zurück sind. Die ganze rauhe Strecke durch Schotter, Flussbetten, Sand und über Schlaglöcher erleiden wir ein zweites (und dann auf dem Rückweg noch ein drittes) Mal. Dabei stellen Reto und ich fest, dass wir beide die Fahrt mit dem Velo vorziehen. Nach ein paar Umwegen (um einige Säcke Mehl und einen Kofferraum voll Holz bei Bekannten des Fahrers auszuladen), erreichen wir Tavildara. Ich kann es kaum erwarten, in den Laden zu kommen und habe bereits einen zusammengeschusterten Satz auf Russisch bereit. Kaum habe ich die ersten Worte gestammelt, lacht mich die Verkäuferin gross an, greift hinter sich ins Gestell und zückt das vermisste Portemonnaie!

Meine Retterin in der Not

Alles sei noch da, ich solle nachsehen, sie habe alles angeschaut, aber nichts genommen. Ich hätte es auf der Theke liegen gelassen. Ich umarme sie vor Freude und kann mein Glück kaum fassen und bedanke mich überschwänglich. Mir kommt schlagartig alles wieder in den Sinn: wie ich zuerst zahlte, und dann die zwei Flaschen aus dem untersten Gestell des Kühlschrankes herausangelte, die zwischen Milch und Cola und anderen Getränken verkeilt waren, wie ich dann gegangen bin und offensichtlich das Portemonnaie auf dem Ladentisch liegen gegelassen habe. Etwa 1000 Somoni waren drin und etwa 50$. Es war von Anfang an dumm, so viel Geld bei mir zu haben. Das soll mir eine Lehre sein. Ich schenke der Frau meine Uhr und gebe ihr einen grosszügigen Finderlohn, den ich ihr richtiggehend aufzwingen muss. Alle scheinen sich mit mir zu freuen. Die Rückfahrt nach Kalaihussein erleben wir wesentlich entspannter. In der Nacht denke ich noch oft an die ehrliche, fröhliche Frau.

Schöne Landschaft beim Aufstieg zum Khaburabotpass

In den sandigen Flussbetten wachsen die gleichen Sträuche wie zuhause im Mauritiusring

 

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