Unterwegs zu den hohen Pässen

Nach unserer letztjährigen Reise durch Zentralasien, haben wir den Winter zuhause verbracht, Familie und Freunde getroffen, das kulturelle Angebot in Winterthur genutzt und in Arbeitsgruppen angefangen, unser künftiges Leben im Mehrgenerationenhaus zu gestalten. Im Frühling haben wir lange schöne Veloferien in Portugal und Spanien verbracht.

Und jetzt sind wieder unterwegs. Am 30. Juni 2012 sind wir mit Sack und Pack mit der Bahn nach Frankfurt a.M. gereist, von wo es einen direkten Flug mit der Somoni Air nach Dushanbe gibt. Der Flug gestaltet sich problemlos, bloss beim Warten auf das Gepäck brauchn wir ziemlich Geduld. Doch es kommt alles an, die in Stofftaschen verpackten Velos sogar als erstes. Die Zollkontrolle können wir in schweigendem Einverständnis mit der Aufsicht umfahren. Was wäre das für eine Übung gewesen, von den fertig bepackten Rädern jedes Gepäckstück wieder zu lösen und einzeln durch den Scanner zu geben. Glück gehabt! In den frühen Morgenstunden fahren wir durch die uns vom letzten Sommer bekannten Strassen der tadschikischen Hauptstadt. Wir werden von Christine erwartet, einer französischen Radreisenden, die seit einem Jahr für eine NGO hier arbeitet. Sie teilt mit ein paar Leuten in der Nähe des botanischen Gartens ein Haus. Wir haben sie über das Gastfreundschaftsnetzt der Warmshowers kennengelernt. Sie ist das einzige Mitglied in Tadschikistan. Wir freuen uns, dass wir ihr als kleines Entgegenkommen Schwalbe-Schläuche für ihre nächste Veloreise mitbringen können. Beim gemeinsamen Frühstück lernen wir uns ein wenig kennen. Christine unterstützt die Leute in abgelegenen Dörfern im Norden Tadschikistans beim ressourcensparenden Feuern und Kochen, beim Gemüseanbau in kleinen Treibhäusern und beim Herstellen von guter Gartenerde mit Kompost. Audrey, eine Mitbewohnerin von ihr, arbeitet in einer NGO, welche Eltern von behinderten Kindern in einer Art Selbsthilfeorganisation unterstützt. Ich erlebe es immer als bereichernd, Menschen mit so grosser Begeisterung und Einsatzfreude kennenzulernen. Sie nehmen viel Entbehrung auf sich und müssen gut mit Enttäuschungen, Rückschlägen und Misserfolgen umgehen können.

Am Nachmittag besuchen wir das Antikenmuseum, das wir letztes Jahr verpasst haben. Es ist berühmt für eine 16 m lange, liegende Buddhafigur aus dem Süden Tadschikistans. Sie befindet sich in einem halb abgedunkelten Raum und strahlt eine tiefe Ruhe aus. Eine Angestellte des Museums kauert am Boden in einer Ecke und wacht aufmerksam über das Verhalten der Besucher. Fotografieren ist leider verboten, und Postkarten kann man auch keine kaufen. Schade.

Wieder unterwegs in Tadschikistan

Am Montag gehen wir Reiseproviant einkaufen und am Dienstag fahren wir früh aus der Stadt heraus. Den Weg kennen wir noch vom letzten Mal, und es ist erstaunlich, an wieviele Stellen wir uns erinnern. Am ersten Tag kommen wir nicht sehr weit. Für mich ist wichtig, dass wir es langsam angehen. In Faizobad essen wir in einem Park ein spätes Mittagessen und beschliessen, im dortigen Hotel zu übernachten.

Unterwegs halten wir alle paar Stunden in einer Chaikhona und trinken Tee.

Am zweiten Tag ist es noch heisser und noch anstrengender. Die Temperaturen gehen gegen die 40°C. Ich bin wahrscheinlich noch von der Antibiotikabehandlung von letzter Woche geschwächt und noch überhaupt nicht an die Hitze gewöhnt. In Obi Garm („heisses Wasser“) kaufe ich auf dem kleinen Basar ein paar Gemüse für das Nachtessen, und wie schon letztes Jahr gibt es alles geschenkt. Trotz langem Insistieren will der Mann mit dem langen weissen Bart partout kein Geld für Rüebli, Kartoffeln, Zwiebeln, Tomaten, und am Schluss lässt er mir durch einen Buben noch ein paar Brote und Knoblauch zum Velo bringen.

Interessante Felsformationen vor Tavildara

In Nurobod halten wir bei einer „Mechmonkhona“ (Herberge), wo man essen und schlafen kann.

Die Familie mit dem behinderten Mädchen

Sie wird von einer Frau geführt, deren Mann in Russland arbeitet und der den Sommer zuhause verbring. Ich rüste meine Gemüse und kann den Eintopf in der Küche auf einer rotglühenden Spiralkochplatte garen. Wir legen unsere Schlafsäcke auf einem Teebett im Garten aus. Ein behindertes Mädchen bleibt lange bei mir. Es ist 15 Monate alt und kann sich nicht auf den dünnen Beinchen halten. Die Mutter fragt, ob ich Ärztin sein, ob ich das Kind nicht untersuchen könnte. Es tut mir so leid, dass ich überhaupt nicht helfen kann. Als mir die Mutter die Kleine in die Arme gibt, ist sie sehr schreckhaft und scheu. Doch als ich zu summen und leise zu singen anfange, schmiegt sie sich an mich und fängt erst wieder zu wimmern an, wenn ich mit dem Summen aufhöre. Die einzige Melodie, die mir in den Sinn kommt, ist seltsamerweise „Ein Männlein steht im Walde, ganz still und stumm“. Nach ein paar Versuchen bringe ich sogar den ganzen Text zusammen. Das Lied wird mich noch ein paar Tage als Ohrwurm begleiten und mich immer wieder an das kleine Kind in meinen Armen erinnern, von dem ich nicht einmal den Namen weiss.

 

Eindrückliche Flusslandschaft

Wir sind jetzt jeden Tag etwas länger und weiter gefahren und haben auch schon viele Höhenmeter erklommen. Es geht immer wieder rauf und runter, und wir gewinnen nur langsam an Höhe. Am dritten Tag stellen wir zum ersten Mal das Zelt auf. Wir haben einen idyllischen Platz an einem See gefunden. Leider konnten wir unterwegs nirgends Gemüse einkaufen, und so gibt es zum Znacht nur Penne mit ein wenig Olivenöl. Zum Dessert gibts ein paar getrocknete Kirschen aus Pakistan (die ich aus der Schweiz mitgebracht habe). Vor dem Schlafen tauchen wir ins kühle Wasser und spülen den Staub und Schweiss ab.

Lebensmittelgeschäft in Tavildara

Gegen Abend des vierten Tag erreichen wir den langen Anstieg zum Kaburabot-Pass. Wir sind recht gut vorwärts gekommen und haben zum dritten Mal hintereinander knapp 1000 Höhenmeter gemacht. Doch als wir uns in Kalaihussein für das Nachtessen eindecken wollen, stelle ich mit Schrecken fest, dass mein Portemonnaie fehlt. Ich habe es zum letzten Mal am Mittag gebraucht, als wir kühles Mineralwasser in Tavildara einkauften. Natürlich habe ich nicht alles Geld drin und nicht alle Bankkarten, doch der Schreck sitzt trotzdem tief. Was soll ich bloss machen…? Ich kann mich nicht erinnern, ob ich es im Laden vergass oder davor beim Einpacken verlor. Wir waren – wie meist in einem Dorf – umrundet von neugierigen Kindern, die unsere Velos bestaunten. Ob sie mein Portemonnaie gefunden haben…? Oder ob es vielleicht jemand auf einem Polizeiposten oder bei der Gemeinde abgegeben hat? Wir sollten so rasch als möglich zurück in dieses Dorf. Wir erkundigen uns nach einem Taxi (in dieser Gegend ist jedes Auto ein Taxi, und jeder Fahrer ist froh, wenn er sein Fahrzeug füllen und ein paar Somoni verdienen kann) und finden einen jungen Mann mit einem Jeep, der ins Tal fährt und noch 2 freie Plätze hat. Wir müssen unverhältnismässig viel bezahlen (250 Somoni im Vergleich zu etwa 20 Somoni, welche wir pro Person für eine einfache Übernachtung ausgeben), doch wir haben keine Wahl. Die Velos und das ganze Gepäck können wir in einem Ladenlokal einstellen, bis wir wieder zurück sind. Die ganze rauhe Strecke durch Schotter, Flussbetten, Sand und über Schlaglöcher erleiden wir ein zweites (und dann auf dem Rückweg noch ein drittes) Mal. Dabei stellen Reto und ich fest, dass wir beide die Fahrt mit dem Velo vorziehen. Nach ein paar Umwegen (um einige Säcke Mehl und einen Kofferraum voll Holz bei Bekannten des Fahrers auszuladen), erreichen wir Tavildara. Ich kann es kaum erwarten, in den Laden zu kommen und habe bereits einen zusammengeschusterten Satz auf Russisch bereit. Kaum habe ich die ersten Worte gestammelt, lacht mich die Verkäuferin gross an, greift hinter sich ins Gestell und zückt das vermisste Portemonnaie!

Meine Retterin in der Not

Alles sei noch da, ich solle nachsehen, sie habe alles angeschaut, aber nichts genommen. Ich hätte es auf der Theke liegen gelassen. Ich umarme sie vor Freude und kann mein Glück kaum fassen und bedanke mich überschwänglich. Mir kommt schlagartig alles wieder in den Sinn: wie ich zuerst zahlte, und dann die zwei Flaschen aus dem untersten Gestell des Kühlschrankes herausangelte, die zwischen Milch und Cola und anderen Getränken verkeilt waren, wie ich dann gegangen bin und offensichtlich das Portemonnaie auf dem Ladentisch liegen gegelassen habe. Etwa 1000 Somoni waren drin und etwa 50$. Es war von Anfang an dumm, so viel Geld bei mir zu haben. Das soll mir eine Lehre sein. Ich schenke der Frau meine Uhr und gebe ihr einen grosszügigen Finderlohn, den ich ihr richtiggehend aufzwingen muss. Alle scheinen sich mit mir zu freuen. Die Rückfahrt nach Kalaihussein erleben wir wesentlich entspannter. In der Nacht denke ich noch oft an die ehrliche, fröhliche Frau.

Schöne Landschaft beim Aufstieg zum Khaburabotpass

In den sandigen Flussbetten wachsen die gleichen Sträuche wie zuhause im Mauritiusring

 

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