Über den Anzobpass nach Dushanbe

Am Morgen um halb sechs klopft der Wirt des Teehauses an unsere Tür. Wir stehen auf, packen unsere Sachen und frühstücken. Es gibt Flocken mit Nüssen, Weinbeeren und Fruchtsaft. Durch die Anstrengung der Vortage verlangen unsere Körper gebieterisch nach Nahrung. Es ist ein gutes Gefühl, diese fast animalischen Regungen zu spüren. Dann kaufen wir im dürftig bestückten Dorfladen das noch fehlende Essen und Wasser für unterwegs und setzen unsere Fahrt Richtung Süden fort. Bis zur Abzweigung nach Anzob, dem zweiten Pass auf dem Weg nach Dushanbe verläuft die Strasse im Haupttal und ist ziemlich flach. Anschliessend gehts über eine längere Strecke durch eine enge Schlucht. Die Strasse ist immer noch ausgezeichnet, aber wegen der engen Platzverhältnisse in der Schlucht geht es rauf und runter, ohne dass wir viel an Höhe gewinnen. Als Entschädigung spenden uns die steilen Bergflanken links und rechts ab und zu etwas Schatten und machen die hohen Temperaturen erträglicher.
Gegen Mittag kehren wir in einem schattigen Gartenrestaurant ein. Da auch in Tadschikistan Fleisch der Hauptbestandteil des Essens ist, fängt wie immer das Werweisen an, was wir bestellen sollen. Einmal mehr sind es Spiegeleier mit Brot. Nach dem Essen fahren wir noch ein kurzes Stück Richtung Anzob weiter und biegen dann zum Iskander Kul See ab.  Der wegen seiner Lage vielgerühmte See liegt auf 2000 m Höhe, umgeben von gewaltigen Bergen. Wir erhoffen uns ein paar kühle Tage an seinen Ufern.

Die Strasse verläuft jetzt in einem offenen Tal. Es ist früher Nachmittag, und wir sind der prallen Sonne ausgesetzt. Da kein Schatten in Sicht ist, steuert die mutige Rosa Maria das nächste Gehöft an und fragt die anwesende Besitzerin, ob wir im Schatten ihres Hauses eine Mittagspause machen dürfen. Wir werden in einen neuen Gebäudeteil gebeten und können auf einem einladenden Hochbett Platz nehmen. Dann werden uns Brot, Früchte, Süssigkeiten und Tee aufgetischt. Als sich Rosa Maria für ihr schmutziges Kleid und die stinkenden Socken entschuldigt, macht die Hausherrin sogleich das Angebot, diese zu waschen. Die beiden einigen sich darauf, dass die Hausherrin die Waschutensilien zur Verfügung stellt, Rosa Maria ihre Kleider jedoch selber wäscht. Während die beiden von dannen ziehen, schlummere ich auf den Kissen des Hochbetts ein.

Nach unserer Rast fahren wir weiter talaufwärts. Ab und zu begegnen uns oasenartige Dörfer, die sich durch die intensive grüne Vegetation von den kargen, bräunlichen Bergen abheben. Die Kinder auf der Strasse und die Frauen auf den Feldern grüssen uns freundlich, aber mit scheuer Zurückhaltung. Das Tal wird immer enger, die Strasse steiler und schlechter und die Berge schroffer, wilder und farbiger – ein wunderbarer Anblick. Als wir auf 200 Meter unter dem Niveau des Sees liegen, ist Rosa Maria am Ende ihrer Kräfte und wir halten nach einem Zeltplatz Ausschau. Auf einem Geländeabsatz finden wir einen relativ ebenen Platz mit wunderbarer Aussicht auf die umgebende Bergarena. Dank unserer aufblasbaren Schlafmatten stört uns der Steine übersäte Boden kaum. Aufpassen müssen wir jedoch auf die vielen Dornengewächse, die unseren Zeltboden und die Matten durchstechen können. Diese kleinen Lecks sind nur mit grossem Aufwand lokalisierbar.

Am nächsten Morgen gehen wir gemächlich zu Werke. Nach Frühstück und Packen setzen wir unseren Weg fort. Die Strasse wird noch steiler und über längere Abschnitte gehts nur noch mit stossen. Als der oberste Abschnitt der Strasse sichtbar wird, merken wir, dass vor dem See noch ein kleiner Pass zu überqueren ist. Aber wir haben ausreichend Zeit und durch die Höhe sind die Temperaturen erträglich. Gegen Mittag erreichen wir den See und fragen in einer ehemaligen sowjetischen Feriensiedlung nach einem Platz für unser Zelt. Wir können uns einen Platz am Ufer des Sees auswählen, abseits von den vielen nicht sehr einladend wirkenden Bungalows. Wir haben eine wunderbare Aussicht auf den See und die umgebenden Berge, deren Gipfel teilweise noch schneebedeckt sind.

Es ist Freitag und die Wochenendausflügler sind noch nicht eingetroffen, und so verbringen wir einen ruhigen, erholsamen Nachmittag. Am folgenden Samstag füllt sich dann das Camp nach und nach und der Lärmpegel nimmt zu. Die vorhandenen sanitären Anlagen und deren Unterhalt kommen an ihre Kapazitätsgrenze und die Idylle schrumpft merkbar. Da wir immer noch einen grossen Nachholbedarf an Kalorien haben und kaum eigenes Essen dabei haben, sind wir auf das Angebot des campeigenen Restaurants angewiesen. Bald merken wir jedoch, dass dieses hauptsächlich darauf ausgerichtet ist, das von den Ausflüglern mitgebrachte Essen zuzubereiten und selbst nur über ein minimales eigenes Angebot verfügt. So gibts wieder einmal viel Eier und ab und zu etwas geschenktes Essen von anderen Besuchern.

Am Sonntag brechen wir auf. Nach dem Überwinden des dem See vorgelagerten Passes gehts es 800 m talwärts, bis zur Einmündung in die Superstrasse zum Anzobtunnel. Auf dem Weg machen wir noch einen kurzen Zwischenhalt bei unseren lieben Gastgebern vor ein paar Tagen und machen ihnen ein kleines Geschenk. Wieder erfreuen uns die Begegnungen mit den freundlichen Talbewohnern und erinnern uns an die schönen Tage im Iran.

Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten für die Weiterfahrt nach Dushanbe: Entweder wir folgen der Hauptverbindung, die den Anzobpass durch einen Tunnel auf 2600 m unterquert, oder wir benutzen die alte Verbindung über den 2370 m hohen Pass.

Über den Anzobtunnel gibt es sehr verschiedene Meinungen. Aus der eingeengten Perspektive von tadschikischen Autofahreren ist die Durchquerung des Tunnels nichts Aussergewöhnliches. Aus der Sicht von verwöhnteren, europäischen Autofahreren ist es ein wildes Abenteuer, durch den unbeleuchteten, unbelüfteten, teilweise unter Wasser stehenden Tunnel zu fahren und den um die Schlaglöcher Slalom fahrenden Autos und Lastwagen zu entkommen. Von Velofahrern hört man Geschichten, die an Dantes Inferno erinnern. Es gäbe die Alternative, eine Mitfahrgelegenheit auf einem Last- oder Lieferwagen zu finden – die Erfolgsaussichten sind jedoch ungewiss.

Die Passstrasse ist bedeutend länger, wegen der Höhe anstrengender und deren Zustand ist unklar. Mich lockt jedoch die Aussicht, durch eine verlassene Gegend und weg vom Verkehr zu fahren und unsere Grenze im Hinblick auf das Reisen im Pamirgebierge zu erkunden. Auch wenn die Erinnerungen an die Strapazen des Shahristonpasses noch sehr präsent sind, geht Rosa Maria auf meinen Wunsch ein. Als die breite, glatt asphaltierte Strasse Richtung Dushanbe abzweigt, nehmen wir die Schotterpiste Richtung Anzob Pass. Kein Strassenschild weist darauf hin, dass dies eine Alternative für die Fahrt nach der tadschikischen Hauptstadt wäre. Wiederum gelangen wir in eine enge Schlucht und folgen einem reissenden Fluss talaufwärts. In einer grossen Höhle oberhalb der Strasse machen wir Mittagspause und Rosa Maria legt sich zu einem Schläfchen hin. Bis zum Dorf Anzob, dass auf 2100 m Höhe liegt, begegnen uns nur eine Handvoll Autos, eine Wohltat nach dem starkbefahrenen Shahristonpass mit den vielen aggressiv fahrenden Sammeltaxis. So können wir beim Fahren in aller Ruhe die wunderschöne Landschaft geniessen. Unterwegs kauft Rosa Maria von zwei Knaben auf einem Esel einen Berg hiesige Aprikosen ab, die sie dann mangels Transportbehälter in ihr Hemd einwickelt. An der nächsten Wasserstelle gelingt es ihr dann, einen Teil der zu Mus zerschlagenen Aprikosen einem kleinen Mädchen zu verschenken und den Rest mitsamt dem Hemd zu waschen. Im Moment bin ich etwas verständnislos, geniesse aber die später zu Kompott verarbeiten Aprikosen als alternative Sauce zu Spaghetti. Nach Anzob fragen wir eine in einem verlassenen Gehöft lebenden Familie um die Erlaubnis, unser Zelt aufstellen zu dürfen. Wir dürfen und der Mann kommt mit einer Sichel, um den Platz von Dornengewächsen freizumachen. Dann werden wir zum Tee eingeladen. Die Familie lebt in einem alten Container, mit einem Hausrat, der um ein vielfaches primitiver und vor allem ärmlicher als unsere Zeltausrüstung ist.

Am nächsten Tag findet die grosse Probe statt: Es erwarten uns wieder 1400 Höhenmeter auf einer Strasse, die kaum mehr genutzt und deren Unterhalt entsprechend schlecht ist. Während wir frühstücken, ziehen Frauen mit Eseln vorbei und begeben sich zu den umliegenden Berghängen, um die sporadischen Äcker zu bewirtschaften oder um wild wachsende Pflanzen zu sammeln. Die meisten wirken sehr fröhlich und ausgelassen, grüssen und rufen uns lachend Sachen zu, die wir kaum verstehen. Dabei hätten sie so viel Grund zu Neid und Missgunst.

Das Muster vom Shahristonpass und vom Iskander Kul See wiederholt sich: Je höher wir kommen, umso schlechter und steiler wird die Strasse. Während Stunden begegnet uns ein einziger Mann, der aus dem Nichts auftaucht und im Nichts verschwindet. Dann kommen wir zu einem terrassenartigen Gebäude, das im Berghang liegt und wahrscheinlich in früheren Zeiten als einfache Raststätte für die Passbenutzer gedient hat. Ein verschlafener Hund rafft sich auf und beginnt mich anzubellen. Ich halte an, um auf Rosa Maria zu warten. Aus einem einfachen Nebengebäude kommt ein strahlendes Mädchen und bietet mir Tee an. Nach und nach kommen weitere Frauen und zwei Knaben aus dem Häuschen, und als Rosa Maria eintrifft, nehmen wir die Einladung an und begeben uns in das Gebäude, das aus einem einzigen kleinen in den Fels gehauenen Zimmer besteht. Aus dem Tee wird dann ein ausgewachsenenes Mittagessen, mit frisch gebackenem Brot, Kefir, Früchten und Süssigkeiten. Das sympathische Mädchen mit seinem offenen und selbstsicheren Blick zitiert ein paar englische Wörter aus seinem abgenutzen Schulbuch. Wir verstehen, dass die Frauen und die beiden Knaben aus dem Dorf Anzob sind und nur während der Alpzeit mit einigen Kühen an diesem Ort leben. Als sie erfahren, dass wir mit dem Zelt unterwegs sind, warnen sie uns vor den Wölfen, welche die Kälber ihrer Herde anfallen. Zum Abschied schenkt Rosa Maria den Frauen eine Flasche Rosenwasser aus dem Iran, Geld für das Essen lehnen sie kategorisch ab. Erst die beiden jungen Knaben sind nach einiger Zeit bereit, einen kleinen Batzen anzunehmen. Nach der Abfahrt begleiten sie uns noch ein Stück, um uns voller Stolz eine mineralhaltige Quelle weiter oben am Berghang zu zeigen. Die Würde, der Stolz und die Selbstsicherheit dieser Frauen und Halbwüchsigen sind ein besonderes Erlebnis.

Etwa vierhundert Meter unter dem Gipfel kühlen und waschen wir uns in einem Bergbach. Die Strasse ist mittlerweilen sehr schlecht und an vielen Stellen mit Felsbrocken der umliegenden steilen  Hänge übersät. Wegen der Steilheit und dem schlechten Strassenzustand ist das Fahren auch für mich fast nicht mehr möglich, und daher kann ich Rosa Maria auch weniger behilflich sein. Als Rosa Maria  nach zwei Stunden feststellt, dass nach meinen geschätzten zwei Stunden bis zum Pass immer noch mehr als die Hälfte der Höhe fehlt, möchte sie anhalten und einen Zeltplatz ausfindig machen. Unter den steinschlaggefährdeten Hängen lassen sich keine geeigneten Stellen finden. Als ich dann unsere Höhe mit dem GPS meines Handys verifiziere, stellt sich heraus, dass nur noch 70 m bis zum Gipfel fehlen. So raffen wir uns nochmals auf, und als dann nach der nächsten Wegbiegung der Passübergang sichtbar wird, bekommen wir zusätzlichen Mut.

Auf dem Gipfel bietet sich uns ein wunderbares Bergpanorama. Da es schon spät ist, möchten wir noch ein Stück weiter runter fahren, um Wasser für die Nacht finden können. Nach einer kurzen Strecke begegnet uns ein Mann, der sich als Wart der Meteostation auf dem Pass herausstellt. Er lädt uns ein, bei ihm zu übernachten, aber wir bevorzugen die Intimität unseres Zeltes und fahren weiter. Die Strasse wird immer lausiger und erfordert höchste Konzentration, um all den Löchern und Felsbrocken auszuweichen. An einem Bergbach füllen wir unseren Wasserbeutel und finden kurz darauf am Strassenrand ein geschütztes Podest, um unserer Zelt aufzustellen. Wir essen von den geschenkten Speisen der lieben Älplerinnen und Reste vom Vortag, waschen uns die Salz- und Staubschichten vom Körper und verkriechen uns ins Zelt.

Den nächsten Tag fahren wir noch eine längere Strecke auf mieser Strasse weiter, bis wir wieder auf die neue Hauptstrasse durch den Tunnel gelangen. Dann rollen wir auf glatter Fahrbahn Richtung Dushanbe, das uns mit Temperaturen zwischen 40 und 45 Grad willkommen heisst. Durch Vermittlung von Nicole und Nik haben wir die Adresse eines Schweizer Velofahrerpaares, Rahel und  Jörg, die uns ihre in Dushanbe gemietete Wohnung überlassen und uns so die Hotelsuche im kläglichen und überteuerten Hotelangebot der Hauptstadt ersparen.

Dushanbe ist an sich eine recht schöne Stadt, vor allem wegen der Baumalleen entlang der Hauptstrassen. Da es nicht all zu viel für uns Interessantes zu sehen gibt, werden wir uns nach Erledigung einiger Notwendigkeiten wieder auf den Weg Richtung Pamirgebirge begeben. Etwas mehr als 500 km trennen uns vom Ziel unserer Wünsche.

This entry was posted in Reiseberichte. Bookmark the permalink.

2 Responses to Über den Anzobpass nach Dushanbe

Schreiben Sie einen Kommentar