Ausklang in Bishkek

Wir bleiben mehrere Tage in Kochkor und geniessen nochmals ausgiebig den Komfort unseres Guesthouses und die Freundlichkeit unserer Gastgeberinnen. Grosse Ziele haben wir keine mehr und so verbringen wir viel Zeit mit Lesen. Beide haben wir seit Kashgar erstmals wieder Bücher, die wir in Nimm-und-Bring-Bibliotheken der Comunity Based Tourism Büros in Kirgistan umtauschen können. Die Auswahl ist jeweils klein, aber immer wieder finden sich einzelne Perlen darunter. Es bleibt uns auch viel Zeit um über unsere Reise nach zu sinnen und Erinnerungen auszutauschen. Von Zeit zu Zeit machen wir einen Spaziergang und schauen uns das Leben auf dem Hauptplatz von Koshkor an. Der fortschreitende Herbst mit den kühleren Tagen und dem bedeckten Himmel lassen uns jedoch schnell wieder in unsere Herberge zurückkehren.
Nach einigen Tagen fahren wir dann nach Bishkek. In Anbetracht des Wetters und des zu erwartenden Verkehrsaufkommens in der Nähe der Hauptstadt genehmigen wir uns ein Taxi. In zweieinhalb Stunden sind wir bequem am Ziel, mit dem Fahrrad hätten wir drei Tage gebraucht!
Etwa ein Sechstel der 5.5 Millionen Kirgisen leben in Bishkek. Es ist eine junge Stadt, die grossteils während der sowjetischen Ära von Kirgistan gebaut wurde. Breite, von Bäumen gesäumte Strassen unterteilen die Stadt schachbrettartig. Im Stadtkern hat es viele ehemalige Prunkbauten, die eher durch ihr Masse als ihre architektonischen und baulichen Qualitäten beeindrucken. Die vielen Pärke, die sich zum Teil über mehrere Quadrate des Schachbrettes ausdehnen, gefallen uns hingegen sehr. Schade, dass das momentane Wetter nicht gerade zum Verweilen im Freien einlädt. In den äusseren Bezirken wird die Stadt ärmlicher und ländlicher. Viele kleine Häuschen, wie man sie von Bildern von russischen Dörfern kennt, bieten Wohnraum für viele Menschen von Bishkek – sie bilden einen starken Kontrast zu den grauen, düsteren Wohnblocks im Zentrum.

Es gibt zwei grössere Theater, eine Oper, eine Philharmonie und mehrere grosse Museen in der Stadt, und das kulturelle Leben ist nach unseren Eindrücken ansprechend und auch abwechslungsreich. Von dem Angebot haben wir bereits Gebrauch gemacht: Vor ein paar Tagen waren wir an einem Tango-Nuevo-Konzert in der Philharmonie. Ein junger russischer Bandoneonist spielte zusammen mit dem Stammorchester Musik von Astor Piazzolla. Das Konzert hat uns und – dem Applaus nach zu schliessen – auch dem Publikum sehr gut gefallen. Und das nicht nur wegen der Exotik der Mischung von Zentralasien und argentinischer Musik. Erstaunlich auch die vielen älteren Leute im Publikum. Heute Abend waren wir im russischen Theater im Sommernachtstraum von Shakespeare. In der Pause haben wir uns frühzeitig verabschiedet, nicht nur wegen der Kälte im Saal.
Wir fühlen uns in Bishkek recht wohl. Unser Guesthouse befindet sich in einer der ländlicheren Wohngegenden am Rande des Stadtkerns. Das Haus ist neu, sehr sauber und verfügt über viel warmes Wasser zum Duschen und Waschen. Durch seine Lage sind wir vom teilweise starken Verkehr abgeschirmt. In der Nähe hat es eine Moschee und fünf Mal am Tag hören wir den Ruf des Muezzins – etwas das uns nach der langen Zeit in moslimischen Ländern sehr vertraut ist und das wir wahrscheinlich vermissen werden.

In unserem Guesthouse treffen wir ein junges welsches Paar, Kilian und Romy. Sie sind mit dem Fahrrad von der Schweiz in die Türkei geradelt und dann nach Kirgistan geflogen. Hier hat es ihnen so gut gefallen, dass sie die restlichen drei Monate ihrer Ferien im Land geblieben sind. Wie viele der Velofahrer, die wir unterwegs getroffen haben, waren es ausserordentlich liebenswürdige und sympathische Personen, und die fast 40 Jahre Altersunterschied schienen überhaupt kein Hindernis zu sein, wenigstens für uns. Woran das wohl liegen mag?

Die Temperaturen in Bishkek sagen uns hingegen weniger zu. Während unseres Aufenthalts ist es zunehmend kälter geworden, und in den letzten beiden Tagen hat es gar geschneit. Auch in unserem Zimmer fallen die Temperaturen – im Moment haben wir noch 12 Grad. So kriechen wir halt ins Bett, wenn’s geht. Für spannende Unterhaltung ist beiden gesorgt. Rosa Maria liest ein Buch von Orhan Pamuk, das in der Türkei und Zentralasien während der ottomanischen Zeit Ende 16. Jahrhundert spielt. Ich ein Werk des Schweizers Nicolas Bouvier, der Anfangs der Fünfziger Jahre zusammen mit dem Maler Thierry Vernet in einem Fiat Topolino von der Schweiz nach Kabul gereist ist. Bouvier hat eine beneidenswert unvoreingenommene Art dem Fremden zu begegnen, sehr, sehr offene Augen und macht viele tiefgründige Reflexionen über das Reisen – erstaunlich für seine 23 Jahre. Für mich ist das Buch umso interessanter, als ich etwa zwanzig Jahre nach Bouvier teilweise die gleiche Route gemacht habe, und unsere jetzige Reise ebenfalls Bouviers Spuren folgte. Wie ich nachträglich erfahren habe, wurde das Buch von Bouvier von Kilian in der Nimm-und-Bring-Bibliothek unseres Guesthouses zurückgelassen, was meine Verbundenheit mit ihm noch verstärkt. Im Gegenzug liest Kilian „Der Fremde“ von Camus, das ich eben beendet hatte.
Am Anfang unseres Aufenthaltes in Bishkek, bei Temperaturen die noch erträglich waren, haben wir uns noch mal aufgerafft und einen Tagesausflug in die naheliegenden Berge im Süden unternommen. Für eine Übernachtung im Zelt ist es uns allerdings zu kalt. Bis sich die Sonne verschleiert hat und wir zu frieren beginnen, sind wir dank dem leichten Gepäck bereits 1100 m höher als Bishkek. Auf dieser Fahrt haben wir eine der wenigen bedrohlichen Begegnungen mit einem Hund. Sonst sind uns diese Tiere in den bereisten Ländern bedeutend freundlicher begegnet als ihre Brüder voriges Jahr in Georgien. Das mag damit zusammenhängen, dass Hunde für strenge Muslime als unreine Tiere gelten und somit weniger Hunde gehalten werden oder herrenlos herumstreunen. Erstaunlich auch, dass viele der hiesigen Hunde sich durch lautes Anschreien abschrecken lassen.

Besonders Rosa Maria findet diese Taktik erfolgversprechend. Ich bin da weniger überzeugt und sichere mich gewöhnlich durch eine zweite, nicht-psychologische Abwehrmassnahme ab.
Nachdem wir langsam die wichtigsten Buslinien ins Zentrum kennen, können wir uns auch schneller in der Stadt bewegen. Eine grosse finanzielle Belastung ist der Transport nicht: Eine Fahrt kostet 5 Som oder umgerechnet 10 Rappen. Auffallend ist auch, dass viele Junge in den gut besetzten Bussen älteren Personen, besonders Frauen, ihren Sitzplatz abtreten. Ein positiver Unterschied zu den meisten der Länder die wir während unserer Reise besucht haben.
Zu unserem Wohlbefinden trägt auch das Verhalten der Automobilisten bei. Erstmals auf unserer Reise gibt es wieder Fahrer, welche bereit sind, den Fussgängern beim Überqueren der Strasse den Vortritt zu lassen. Was diese zivilisatorische Leistung bewirkt hat, ist uns unklar. Die Verkehrspolizei macht sich praktisch nur mit Geschwindigkeitskontrollen bemerkbar. Ein grösseres Unfallrisiko stellt für die Fussgänger das Wandern auf den Trottoirs und auf den Fusswegen der Parks dar, vor allem bei Dunkelheit. Fast alle Dohlendeckel fehlen. Wahrscheinlich wurden sie gestohlen und eingeschmolzen. Möglicherweise hat sie die Stadtverwaltung auch vorsorglich entfernt. Ein gleiches Schicksal haben auch Skulpturen aus Metall erfahren, die Teil einer Ausstellung in einem städtischen Park waren.
Im Gegensatz zu Georgien sind Symbole der sowjetischen Vergangenheit in Bishkek und in Kirgistan überhaupt noch viel präsenter. Es gibt viele Lenin-Denkmäler, Hammer und Sichel sind noch vielerorts im öffentlichen Raum zu sehen und die Uniformen der Militärs wecken Erinnerungen an frühere Zeiten. Auch die russische Sprache ist noch sehr verbreitet. Diese Sprache wird offensichtlich nicht nur von den etwas mehr als 10 % noch hier lebenden Russen verwendet. Auch sind die meisten Radio- und Fernsehsendung in Russisch.


Morgen finden in Kirgistan Präsidentschaftswahlen statt. Das anfängliche Feld von über 20 Kandidaten hat sich in der Zwischenzeit etwas gelichtet und es sind meines Wissens noch etwa 16 Leute im Rennen, alles Männer (die Übergangspräsidentin war eine Frau!). Der augenscheinlichste Unterschied der Bewerber liegt für uns in der Kopfbedeckung: Die einen tragen einen der typischen Kirgiesenhüte, ein paar Mützen hochrangiger Militärs und der Rest ist barhäuptig. Nach Presseberichten hat es auch Sportler mit Ambitionen dabei, einen Boxer und einen Billardspieler. Beunruhigender an der Situation ist hingegen die Tatsache, dass etliche der Kandidaten auf die ethnische oder nationalistische Karte setzen. In Anbetracht des schweren Konfliktes zwischen „richtigen“ Kirgisen und der usbekischen Minderheit im Land, der letztes Jahr ein paar hundert Tote forderte, ein sehr riskantes Spiel. Im Anheizen von Spannungen zwischen weiteren Volksgruppen und unterschiedlichen Landesregion liegt anscheinend eine verführerische Verlockung zur politischen Profilierung. Hoffentlich trägt das kalte Wetter zur Abkühlung der Gemüter bei!

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Noch einmal 7 Tage mit dem Velo unterwegs

Am Sonntag kontrollieren wir unsere neue Ausrüstung, die wir am Vortag am Flughafen abholen konnten. Wir stellen das Zelt auf und freuen uns über alle Verbesserungen am Modell Orion, die wir feststellen können. Auch wenn wir lieber wieder ein orange-gelbes Zelt gehabt hätten, gefällt uns die grün-gelbe Variante. Wir packen die Matten aus und bewundern die neue, integrierte Pumpe. Unser Entscheid über die Weiterreise ist schnell gefällt: Wir wollen so rasch als möglich wieder in die Berge. Jetzt, da wir wieder so gut ausgerüstet sind, haben wir weder Kälte noch Schnee, Sturmwinde oder Regen zu fürchten.

Die Gegend südlich der kirgisischen Hauptstadt reizt uns am meisten, und vor unserem Rückreise­termin am 31. Oktober 2011 haben wir noch genügend Zeit für eine längere Tour.

Bevor wir am Montagmorgen losfahren, versorgen wir uns mit russischen Karten im Massstab 1:200’000, die uns einen guten Überblick über den Höhenverlauf geben, und auf welchen alle auch noch so kleinen Ortschaften eingezeichnet sind. Offen ist dann immer noch, ob es im Dorf ein „Ma­gasin“ gibt und was es – neben Wodka und Süssigkeiten – zu bieten hat. Wenn wir in einem trocke­nen Gebiet unterwegs sind, ist es besonders wichtig, dass wir jeden Tag genügend Wasser beschaf­fen können, bevor wir das Zelt für die Nacht aufstellen. In den Dörfern findet man manchmal Was­serpumpen, an denen auch die Einheimischen ihr Wasser holen. Nicht selten sind es Kinder, die die­se Arbeit erledigen. Mit etwas Glück haben sie einen Esel für den Transport, doch meist nur eine Schubkarre, mit der sie die 20, 30 oder mehr Liter Wasser nachhause bringen. Wir brau­chen jeweils für das Nacht- und Morgenessen und zum Waschen ungefähr 6 Liter. Dazu kommt das Wasser, das wir am folgenden Tag für unterwegs benötigen. Meist finden wir in den Läden Mineralwasser in 1.5-Liter-Flaschen, das ist für uns immer die bequemste Lösung. Ich frage mich jedesmal, wer ausser uns in diesen abgelegenen Dörfern Wasser in Flaschen kauft.

Am ersten Tag fahren wir durch das dicht besiedelte und landwirtschaftlich intensiv genutzte Gebiet der Chuy-Ebene. An der Abzweigung nach Djalalabad und Osh in Kara Balta decken wir uns noch­mals mit Benzin für den Kocher, mit Wasser, Kondensmilch und ein wenig Gemüse ein. Un­terwegs überholen uns wild hupend ein paar mit bunten Bändern und Plastikblumen geschmückte Autokara­wanen mit Hochzeitsgesellschaften. Ob die Braut jeweils schon mitfährt oder ob sie erst noch „ge­raubt“ werden muss, ist mir nicht ganz klar. Schön wäre es zu wissen, wie früher die Hoch­zeiten ge­feiert wurden. Irgendwo habe ich gelesen, dass die zukünftigen Schwägerinnen und die Freundin­nen die Braut singend in ihrem Elternhaus abgeholt haben, was mich an die Tradition der Bakhtiari und unsere Erlebnisse in Iran erinnert.

Ziemlich unwohl ist uns bei der Tatsache, dass Wodka allgegenwärtig ist. Man prostet uns aus den fahrenden Autos zu. Der Abfall an den Strassenrändern wie auch an allen schönen Picknickplätzen besteht mehrheitlich aus leeren Wodkaflaschen aus Glas. Entsprechend viele Glasscherben finden sich auch auf der Strasse. Für unsere robusten Reifen ist das glücklicherweise keine Bedrohung.

Unser neues Zelt weihen wir am Fusse des Ala Too-Gebirges ausserhalb der Ortschaft Sosnovka ein. Die Reissverschlüsse gleiten so sanft und schliessen so sauber, dass es ein Vergnügen ist, sie zu benutzen. Im­mer wieder wundern und freuen wir uns darüber, ein so schönes neues Zelt zu haben.

Am zweiten Tag gehts auf weiterhin asphaltierter Strasse sanft aber stetig aufwärts. Der Verkehr ist nur mässig und behindert uns nicht. Mehrmals überholen wir an diesem Tag einen Traktor, der ei­nen rostigen Pflug transportiert. Er scheint von Unglück verfolgt zu sein und erleidet eine Panne nach der anderen. Einmal hilft Reto beim Anschieben des Gefährts. Bei jeder erneuten Begegnung werden wir winkend begrüsst.

Mitte Nachmittag entdecken wir bei der Brücke über den Abla-Fluss eine Naturstrasse, die westlich von der Töör Ashuu-Passstrasse abzweigt und wahrscheinlich zu einer Sommerweide führt. Wir be­schliessen, ihr ein Stück weit zu folgen und nach einem Platz für die Nacht Ausschau zu halten, was hier wesentlich einfacher als in dicht besiedelter Gegend ist. Ein paar Hundert Meter von der Ab­zweigung entfernt stellen wir unser Zelt auf. Es ist jedesmal besonders angenehm, direkt an einem Fluss zu zelten und über genügend sauberes Wasser zum Waschen und Kochen zu verfügen. Besonders das Abwaschen von Pfannen und Geschirr ist so viel einfacher, als wenn man mit Wasser sparsam umgehen muss.

Wir befinden uns bereits auf einer Höhe von über 2000 m.ü.M., und die Nacht ist empfindlich kalt. Doch da wir jetzt wieder ein richtig gutes Zelt und zwei neue Daunenmatten haben – neben Schlaf­sack und warmen Kleidern für die Nacht – frieren wir nicht.

Wir haben grosses Wetterglück. Auch am dritten Tag bleiben wir von Regen verschont, obwohl der Himmel Wolken verhangen ist, während wir die letzten 1100 Höhenmeter zum Töör Ashuu-Tunnel hinauf fahren. Der Pass selber liegt auf 3686 m.ü.M., doch wird die Bergstrecke nicht mehr unter­halten, seit der Tunnel eröffnet wurde. Da wir nicht wissen, ob das Wetter umschlägt oder ob der Pass sogar Schnee bedeckt ist, entscheiden wir uns wohl oder übel für den Tunnel. Am Eingang erfahren wir von zwei Beamten, dass der Tunnel 2.6 km lang ist. Sie prüfen unsere Schein­werfer und Rücklichter. Für die Autos muss eine Gebühr bezahlt werden. Mit mulmigem Gefühl und ziemlich starkem Herzklopfen fahre ich in den Tunnel, dicht hinter mir folgt Reto. Da zum Glück die Lastwagen nur in jeweils einer Richtung unterwegs sind, empfinde ich den Verkehr als erträglich. Der Tunnel ist schwach beleuchtet, doch der Zustand des Belages ist so schlecht, dass ich nicht alle Hindernisse rechtzeitig sehe. Ich fühle mich unwohl und unsicher und versuche, mich nur auf regelmässiges Vorwärtskommen auf der leicht steigenden Strasse zu konzentrieren. Kaum haben wir 100 Meter zurückgelegt, ertönt ein anschwellender, Ohren betäubender Lärm, dem ich so rasch als möglich entfliehen möchte. Erst als sich dieser Krach ca. alle 200 Meter wiederholt, verstehe ich, dass es Venti­latoren sind, die einen solchen Lärm verursachen. Als ich endlich Tageslicht am Ende des Tunnels erblicke, bin ich mehr als nur erleichtert. Wir erreichen rasch den Ausgang und stellen erfreut fest, dass es auf der südlichen Seite des Ala Too-Gebirgszuges etwas wärmer ist als im Norden. Trotzdem sind wir für die Weiterfahrt froh um warme Windjacken, Handschuhe und Kappen. Auf der Talfahrt sind wir schneller als manche Last­wagen. Es ist ein Vergnügen, die Räder auf der gut ausgebauten und schön asphaltierten Strasse sau­sen zu lassen. Unter uns liegt die riesige Suusamyr-Ebene, die wir morgen in Richtung Osten durch­queren werden. Rasch haben wir mehr als 1000 Höhenmeter verloren, und wir verlassen die asphal­tierte Strasse.

Kurz nach dem Dorf Suusamyr finden wir am Rande eines grossen abgeernteten Feldes einen schö­nen Platz fürs Zelt, der zur Strasse hin durch einen Sandhügel abgeschirmt ist.

In der Abendsonne geniessen wir den Blick auf friedlich weidende Herden von Schafen, Ziegen, Kühen und Pferden, die zwischen den Getreidestoppeln noch Gräser und Kräuter finden.

Die Arbeit ist getan, wir geniessen den Feierabend…

… bei einem heissen Milchkaffee.

Am Morgen besucht uns ein berittener Hirte, der uns lange neugierig und freundlich beim ganzen Zeltabbau und Beladen der Velos beobachtet. Schon öfters haben wir erlebt, wie uns Menschen ganz ungeniert betrachten. Meist gehen sie dabei in die Hocke und verfolgen geduldig jede unserer Bewegungen. Diese so direkt gezeigte Neugier war uns anfänglich eher unangenehm, doch mit der Zeit spüren wir, dass das eine Form von Interesse ist.

Ein neugieriger Besucher

Oft vergleichen wir solches Verhalten mit der Reaktion der Menschen in Iran. Dort hätten sie uns in ähnlichen Situationen sofort angesprochen, hätten uns in ihrem Land willkommen geheissen und wissen wollen, wie es uns bei ihnen gefällt. Auch mit nur ein paar wenigen Brocken Englisch hätten sie versucht, ein Gespräch mit uns zu füh­ren. Bald hätten sie uns zum Essen oder Übernachten eingeladen, was wir zuerst zwei-dreimal hät­ten ablehnen müssen, um zu verstehen, ob die Einladung nicht nur eine formelle Höflichkeit dar­stellt. Hier in Kirgistan werden wir – wenn wir überhaupt wahrgenommen und angesprochen wer­den – höchstens gefragt, woher wir kommen. Das tönt dann so: „Atkuda?“ (russisch für „woher“), was wir mit „Schwietzaria“ beantworten. Dann folgt die nächste Frage: „Turist?“, die wir mit „Da“ bejahen. Damit hat sichs, und die Leute gehen grusslos weiter. In den bisherigen Ländern haben wir uns meist willkommen gefühlt. Hier dagegen sind wir unsicher. Natürlich erwarten wir nicht die gleiche Offenheit und Herzlichkeit wie in Iran. Trotzdem bleibt manchmal ein ungutes Gefühl, von dem ich nicht weiss, ob es begründet ist. Sicher hat es damit zu tun, dass ich weder kirgisisch noch russisch verstehe, und dass ich mit den hiesigen Gepflogenheiten nicht vertraut bin. Ausserdem merke ich, wieviel Gewicht ich unserer meist doch rein formalen Höflichkeit zumesse. Ich bin als Reisende in einem fremden Land, und es steht mir nicht zu, unsere Massstäbe und Wertvorstellun­gen anzuwenden.

An diesem Tag fahren wir zuerst weiter durch die Hochebene. In der Nähe von auch noch so kleinen Ortschaften befindet sich oft ein eindrücklicher Friedhof, manchmal grösser als das Dorf selber. Mich faszinie­ren diese Anlagen.

Es gibt Grabmäler, die nur aus einem Drahtgestell in Form einer Jurte bestehen. Andere sind aus Backsteinen gebaut und haben Kuppeln, Türmchen. Fast alle sind mit Halbmonden und Sternen verziert.

Am Ende der Hochebene folgen wir dem Kökömeren-Fluss in seinem steilen, engen Tal. Wir fahren durch das Dorf Kizil Oy, in welchem ein grosses Angebot an CBT-Dienstleistungen existiert. Von hier werden mehrtägige Trekkings zu hochgelegenen Jailoos (Sommerweiden), u.a. zum Song Köl, wo wir auch schon waren, angeboten. Doch jetzt ist es zu kalt für solche Exkursionen. Zudem sind die Hirten, bei denen man übernachten und essen könnte, mit ihren Tieren wieder unten im Tal. Touristen haben wir seit Bishkek keine mehr ange­troffen. Hoffentlich sind sie im Sommer zahlreicher. Ein junges Mädchen spricht uns an: „I would like you to stay in my village.“ Wir erklären, dass wir heute noch weiter fahren wollen und im Zelt schlafen. Von ihrer Mutter kaufen wir ein selbstgebackenes Brot und in einem der kleinen Läden finde ich sogar unsere Lieblingsnudeln, die wir in Kashgar zum ersten Mal assen. Sie sehen aus wie flache Spaghetti und enthalten wahrscheinlich nur Weizenmehl, Wasser und Salz. Sie sind in ein paar Minuten gar und zusammen mit gedünstetem Gemüse sind sie nicht nur nahrhaft, son­dern auch sehr schmackhaft.

Weiter flussabwärts finden wir in einem Seitental einen idealen Platz für die Nacht: eine kleine fla­che Wiese am Bach. Wir fragen einen Mann, der gerade seine Tiere heimtreibt, ob wir hier das Zelt aufstellen dürfen. Er hat nichts dagegen und wir sind beruhigt. Seit wir von Nicole und Nik erfahren haben, dass ihre Velos – wahrscheinlich von Hirten – gestohlen wurden, als sie vermeintlich gut versteckt zelteten, sind wir sehr vorsichtig in der Wahl unserer Plätze für die Nacht. Mit Hilfe der kirgisischen Polizei wurden die entwendeten Velos nach ein paar Tagen übrigens wieder gefunden, und die zwei jungen Bündner konnten ihre Reise über China nach Pakistan fortsetzen. Schade, dass wir jetzt jeweils den Hirten nicht mehr ganz so unvoreingenommen begegnen können. Doch der Verstand hilft mir, solche Gefühle zu relativieren, und auch im Zelt schlafe ich in Kirgistan meist ruhig und gut.

An diesem Abend, es ist schon dunkel draussen und wir lesen noch ein wenig im Licht unserer Stirnlampen, hören wir, wie uns von draussen dicht beim Zelt jemand anspricht oder grüsst. Reto antwortet mit „Moment“, schält sich aus dem Schlafsack und öffnet den Reissverschluss des Ein­gangs. Der Mann, der uns mit seinem Hund besucht, grüsst und plaudert ein wenig mit Reto, der sich recht gut mit ihm auf Russisch verständigt, während ich mich hinter seinem Rücken im Zelt verstecke. Nicht dass ich Angst hätte, aber da ich den Fremden nicht sehen kann, halte ich mich lie­ber zurück. Ich rätsle, ob der Mann vom nahen Bauernhof ist, ob er uns unterwegs auf der Stra­sse gesehen hat oder ob er einfach zufälligerweise vorbeigeritten ist und sein Pferd in der Nähe an­gehalten hat, als er das Licht im Zelt sah. Nach einer Weile verabschiedet er sich, und Reto und ich schauen uns nachdenklich an. Glück gehabt…? Ach, wenn wir bei solchen Erlebnissen doch zuerst dran denken würden, dass es nur natürlich ist, wenn sich jemand über ein Zelt am Bach wundert und sich vielleicht sogar sorgt, ob die armen Leute nicht kalt haben, die in dieser Jahreszeit noch draussen übernachten.

Alter verlassener Kirgisenfriedhof aus Lehm

Am nächsten Tag, dem fünften seit wir am Montag Bishkek verlassen haben, fahren wir auf recht guten Naturstrassen und noch immer verlieren wir an Höhe.

Anfänglich ist das Tal sehr schroff. Das Wasser des Flusses und die leuchtend gelb gefärbten Bäume heben sich deutlich vom Grau der Felsen ab.

Dann öffnet sich das enge Tal, und neben dem Fluss weidende Pferde kündigen die Nähe von Sied­lungen an. Rote und braune Bänder im Felsen werden durch riesige, steil abfallende Halden aus rosa Sand unterbrochen. Diese Landschaft ist unwahrscheinlich schön und eindrucksvoll, und es eröff­nen sich uns immer neue Sichten auf das Tal.

Kurz vor Aral


Was für ein Glück, in solcher Landschaft mit dem Velo unterwegs zu sein!

Erst nach dem Zusammenfluss von Kökömeren und Kyzart (?) auf etwa 1400 m.ü.M. gehts wieder aufwärts, zu unserer grossen Verwunderung und Freude auf Asphalt. Die Steigung ist nur schwach, und wir kommen gut vorwärts. In Chayek, einem grossen und langen Dorf in diesem abgelegenen Tal, gibt es viele Einkaufsmöglichkeiten: knuspriges, noch warmes Brot, kna­ckig frische Rüebli, mehrere Sorten Äpfel.

Reto kauft Brot ein

In einem der Läden werde ich zu meinem grossen Erstaunen in perfektem Französisch begrüsst. Die Besitzerin erzählt, dass sie Französisch unterrichtet habe, und sie freut sich sehr, jemanden zum Plaudern zu finden.

Wieder sind wir auf einer Hochebene unterwegs. Die meisten Felder sind gelb und bereits abgeerntet. Etwas, das uns in diesem Land besonders gut gefällt, sind die vielen weidenden Tiere: Ziegen, Schafe, Pferde und Kühe, meist begleitet von berittenen Hirten, prägen unsere Erinnerungen an Kirgistan. Besoners gern denken wir an die Yaks zurück, die wir hoch oben auf den Sommerweiden angetroffen haben.

Oft ist die Strasse durch mehrreihige Alleen von den Feldern abgetrennt: Das ist uns beim Zelten sehr willkommen, da es uns Schutz vor neugierigen Blicken bietet. So finden wir auch für diese Nacht einen guten Platz. Gestört werden wir höchstens ab und zu durch die laut ratternden Lastwagen, die während der ganzen Nacht verkehren. Wir haben noch nicht herausgefunden, warum der Schwerverkehr mehrheitlich nachts unterwegs ist.

Wir freuen uns immer wieder über unser schönes neues Zelt und geniessen es, dass alles daran so tadellos funktioniert. Was für ein beruhigendes Gefühl, verglichen mit den immer grösser werden­den Problemen, die wir seit dem Pamir- und Karakorum-Highway mit dem alten Zelt hatten! Doch jetzt sind wir glücklich und zufrieden und hoffen, dass uns das neue Zelt auch auf den nächsten Rei­sen nicht im Stich lässt.

Am nächsten Tag gehts noch einmal eine Stufe höher. Wieder kommen wir an Friedhöfen vorbei, in denen wohl mehr Menschen ihre letzte Bleibe gefunden haben als Einwohner in den Dörfern leben.

Der Bub hinten auf dem Pferd ist vorher lange neben mir hergerannt.

Jumgal ist das letzte Dorf vor dem Kyzart Pass. Wir fahren noch etwas weiter und suchen für die letzte Nacht vor Kochkor einen guten Platz.

Auch wenn wir das Zelt hinter hohem Riedgras und unter Weiden aufstellen, kann man uns von der Strasse sicher recht gut sehen. Doch der Verkehr hat sich stark abgeschwächt, und wir machen uns kei­ne Sorgen. Der Platz liegt idyllisch an einem plätschernden Bach, das kurz abgeweidete Gras ist grün und fein wie englischer Rasen, und grosse Steine erleichtern das Sitzen beim Kochen und Es­sen. Die Velos schliessen wir wie jeden Abend zusammen und befestigen das Schloss zusätzlich an einem Baum.

Vielleicht ists schon das letzte Mal, dass wir auf unserer Reise im Zelt übernachten

Jetzt trennen uns noch knapp 70 km und der 2664 m hohe Kyzart Pass von Kochkor. Wir fahren wieder auf Schotter. Der Anstieg zum Pass führt vorbei an mehreren Jailoos, auf denen wir nur noch die kreisrunden Eindrücke der inzwischen abgebauten Jurten sehen. Wie schön muss es hier im Sommer sein, wenn die Wiesen grün und voller Blumen sind, mit weidenden Yaks, Pferden, Zie­gen und Schafen, und wenn man bei den Hirten einkehren kann. Vielleicht kommen wir noch einmal nach Kirgistan und reisen in der wärmeren Jahreszeit durch die Berge.

Doch jetzt freue ich mich, dass ich so gut in Form bin und ziemlich mühelos auf den Pass fahren kann. Oben stehen ein paar Wagen, wie sie früher als Unterkunft für Strassenarbeiter benutzt wurden. Hier bieten ein paar junge Frauen frisch gebratene Fische aus dem Songköl-See an. Wir setzen uns an einen Tisch im geheizten Wagen. Während ich einen Fisch nach dem anderen verzehre und mir die Finger le­cke, leistet mit Reto Gesellschaft und trinkt Tee. So saftigen, weichen, aromatischen Fisch habe ich schon sehr lange nicht mehr gegessen.

Nach dieser Pause ziehen wir wärmere Kleider an und geniessen die Talfahrt. Die ersten ca. 10 km noch auf Schotter, doch dann auf gutem Asphalt. Wie ich das geniesse, mit dem Velo in einer so schönen Landschaft unterwegs zu sein, mühelos talwärts zu rollen und mich in Gedanken schon auf die warme Dusche am Abend im Guesthouse von Kochkor zu freuen.

Und wirklich, wir werden überrascht und freudig von der Grossmutter begrüsst, von der wir uns vor gut zwei Wochen verabschiedet hatten. Wer hätte damals gedacht, dass wir hierher zurückkehren würden?

Markt in Kochkor


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