Reisemüde …?

Wir sind jetzt seit mehr als 200 Tagen unterwegs und es hat sich eine gewisse Reisemüdigkeit eingestellt.

Bin ich reisemüde?

Dies zeigt sich bei mir in einer Überempfindlichkeit auf unangenehme Situationen. Ich ärgere mich  mehr als früher über schlechte Strassen, rücksichtslose Autofahrer, schrille Hupen, unfreundliche Menschen, freche Kinder. Ich weiss nicht, wieviel dies mit der wirklichen Situation in Kirgistan zu tun hat, und wieviel damit, dass ich nicht mehr mit der gleichen Begeisterung wie am Anfang unserer Reise unterwegs bin. Ich bin manchmal psychisch erschöpft und fast übersättigt. Die Intensität und Schönheit der Erlebnisse in den letzten 6 Monaten lässt sich fast nicht beschreiben. Unsere Ziele haben wir erreicht und die Herausforderungen gemeistert. Auch wenn es selten ganz einfach war,  alles ist uns gelungen, die Reise durch den unbekannten Iran, die langen Tagesetappen in der Hitze Usbekistans, die hohen Pässe über 4000 m, der Pamir-Highway. Wir haben die mythischen Städte auf der Seidenstrasse gesehen: Buchara, Samarkand, Kashgar. Auf dem Karakorum Highway waren wir unterwegs, und Pakistan und Hunza (mein Traumziel für eine nächste Reise) wären nicht unerreichbar gewesen. Wir sind über den Torugart-Pass gereist, der uns ähnlich geheimnisvoll und unerreichbar vorgekommen war wie der Ort Villa O’Higgins ganz im Süden der Carretera Austral, als wir unsere erste grosse Veloreise durch Patagonien planten.

Hier in Kirgistan glaube ich, das Schönste bereits gesehen zu haben: Tash Rabat und die Karawanserei, Song Kol und seine Jailoos (Sommerweiden) mit den Jurten und Pferden. Für weitere Ziele, z.B. die Tian Shan-Berge, ist die Jahreszeit ungünstig. Auf den Pässen kann bereits Schnee liegen. Die Jurten, in denen die Hirten den Sommer verbringen und wo man schlafen und essen könnte, sind z.T. schon abgebrochen. Die Tiere und Menschen leben wieder weiter unten im Tal. Der schlechte Zustand unseres Zeltes und der Matten zwingt uns, auf Übernachtungen in diesen Höhen zu verzichten.

Wo sind wohl meine Gedanken…?

Inzwischen sind wir in Karakol am südöstlichen Ende des Issikkul-Sees angekommen. Wir haben ein grosses, freundliches Zimmer in Jamilya’s B&B, das wir sogar heizen können. Am Sonntag waren wir auf dem Viehmarkt, der uns ein wenig an Kashgar erinnerte, jedoch weit kleiner war und für uns weniger interessant. Manchmal gehen wir ins Internet-Café oder zum Bazar. Wenn es nicht regnet, unternehmen wir kleine Ausflüge und Wanderungen. In der CBT-Koordinationsstelle haben wir unsere gelesenen Bücher eingetauscht und sind jetzt wieder mit Lesestoff versorgt. Ich habe eine englische Ausgabe von „Rot“ von Pamuk gefunden, Reto einen Thriller aus den 80er-Jahren, der in Kalifornien spielt und von einem Kinderpsychiater geschrieben wurde.

Die Russisch Orthodoxe Kirche von Karakol

An die Fahrt von Kochkor hierher denke ich mit gemischten Gefühlen zurück.

Am ersten Tag kommen wir noch recht gut vorwärts, doch gegen Ende des Nachmittags werde ich plötzlich sehr müde, und wir hoffen, bald eine Mehmankhana (Gasthaus) oder Gastiniza (Hotel) zu finden. Auf unsere Frage nach Unterkunft werden wir von einem Dorf ins nächste vertröstet.

Eingangs Karla Marx, das auf den Karten und Ortstafeln Kara Koo heisst, erkundigen wir uns bei einem älteren Mann, der seine Kuh am Bach weidet, nach dem Gasthaus, das es im Ort geben soll. Er versteht uns und sagt, dass es hier so etwas nicht gibt. Ob wir bei ihm schlafen wollen, meint er lachend und legt dabei seinen Kopf auf die wie zu einem Kissen gefalteten Hände. (Ich erinnere mich an die kleine Gulia, die mir mit der gleichen Geste signalisierte, dass sie müde sei.) Wir erklären, dass wir eine Palatka, ein Zelt haben, und fragen, ob wir bei ihm campieren dürfen, was er bejaht. Doch wie kommen wir zu seinem Haus? Das Dorf scheint recht gross. Wir verstehen seine Wegbeschreibung nicht, und er muss bei seiner Kuh bleiben. Inzwischen haben sich zwei neugierige Buben zu uns gesellt, einer mit einem Fahrrad. Sie verstehen rasch und fahren uns durch die verwinkelten Strassen voraus. Das Anwesen ist durch eine hohe Blechwand von der Strasse abgetrennt. Der Bub ruft einen Namen, doch nichts tut sich, nicht einmal ein Hund bellt. Das Tor ist nur angelehnt. Sollen wir einfach hineingehen? Der Bub ruft wieder, und jetzt erscheint eine sehr erstaunte ältere Frau. Er scheint ihr zu erzählen, dass uns ihr Mann hierher geschickt hat, und wir einen Platz zum Übernachten suchen. Nach anfänglichem Zögern winkt sie uns herein, und wir schieben unsere Fahrräder durchs Tor, vorbei zwischen Wohnhaus und Stall und steuern auf die „Hausmatte“ zu. Unter reich behangenen Apfelbäumen schnattern aufgeregt ein Truthahn und seine Hennen.

Dürfen wir hier das Zelt aufstellen? Die Frau scheint einverstanden zu sein, doch versteht sie nicht, warum wir uns die Arbeit mit dem Zelt machen, wo wir doch bei ihnen im Haus schlafen könnten. Später, das Zelt steht schon, kommt der Mann nachhause um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Er diskutiert kurz mit seiner Frau und geht dann wieder. Sie fragt, ob wir Tee trinken möchten. Ich freue mich sehr auf etwas Warmes, ohne selber kochen zu müssen. Hier heisst Tee trinken fast immer, dass man auch Brot und verschiedene Konfitüren bekommt, oft zusammen mit Butter oder dickem Rahm und Kefir. Wir sind hungrig und greifen tüchtig zu.

Inzwischen ist auch der Mann wieder da, und wir sitzen zu viert um den Tisch in der Küche. Im Fernseher läuft eine russische Serie, welche die Frau mit halber Aufmerksamkeit verfolgt. Sie scheint jetzt ebenfalls erfreut über unseren Besuch. Anfänglich hatte ich den Eindruck, dass wir sie mit unserem Kommen ein wenig überrumpelt haben und dass sie nicht ganz mit ihrem Mann einverstanden war. Doch jetzt ist sie freundlich und grosszügig, füllt immer wieder unsere Tassen mit Tee und Milch. Der Mann hat ein Notizbuch hervorgeholt. Da wir so wenig Russisch verstehen und sprechen, fliesst die Unterhaltung nur stockend. Wir schreiben mit einem gewissen Schalk unser Alter auf. Ich nehme an, dass unsere Gastgeber etwa 10 Jahre jünger sind als wir. Wenn es ums Alter ging, habe ich die Menschen in Zentralasien meist älter geschätzt als sie sind. Hier ist es umgekehrt. Die beiden sind sogar älter als wir. Dursun, so heisst die Frau, ist 65, und ihr Mann Kader ist 70 Jahre alt. Beide sind pensioniert. Wir erfahren, dass sie eine Rente von zusammen etwa 500$ beziehen. Er habe als Buchhalter gearbeitet. Dieses Wort sagt er seltsamerweise auf Deutsch, obwohl er weder diese noch eine andere Sprache, ausser Kirgisisch und Russisch, spricht. Beim Nachtessen – inzwischen ist das Zelt fertig eingerichtet – gehen die Fragen weiter. Er möchte so vieles über uns und unser Land wissen. Er zeigt uns die Seite über die Schweiz, die er in einem alten russischen Lexikon aufgeschlagen hat, und möchte wissen, wo wir leben. Wir zeigen ihm Winterthur auf der Karte. Er unterstreicht den Ort, damit er ihn auch später wieder findet, und schreibt unsere Namen auf. Dann holt er ein Adressbüchlein hervor und zeigt uns eine leere Seite, wo wir uns eintragen sollen. Als wir zum Zelt zurückgehen, ist es schon dunkel. Kader ist beruhigt, dass wir eine Stirnlampe dabei haben. Trotzdem brennt die ganze Nacht im Hof das Licht. So finden wir auf Anhieb den Weg zur Latrine neben dem Stall und zum improvisierten Lavabo beim Hauseingang, wo wir uns waschen können.

Beim Frühstück sagt uns Kader, dass er möchte, dass wir ihn fotografieren. Ich gebe ihm eines der chinesischen Couverts aus Kashgar und bitte ihn, seine Adresse darauf zu schreiben, damit wir ihm später die Bilder schicken können. Ich wäre nicht in der Lage, seine Handschrift zu lesen und auch nur einigermassen verständlich zu kopieren. Als wir reisefertig sind, werden wir nochmals zum Tee eingeladen. Wir lehnen ab, da es schon spät ist und wir gerne aufbrechen möchten. Reto steckt Dursun beim Abschied eine 500 Som-Note zu, die sie sehr überrascht aber sichtlich erfreut annimmt. Kader meint scherzend, dass in Zukunft weitere Touristen bei ihnen einkehren können.


Abschied von Kader und seiner Frau Dursun

Die Weiterfahrt an diesem Tag ist unangenehm und anstrengend. Ich bin eher lustlos unterwegs, da ich mich auf eine gemütliche Seeuferstrasse eingestellt hatte. Stattdessen gilt es, eine Anhöhe von etwa 500 m zu überwinden. Der Zustand der zwar asphaltierten Strasse ist derart schlecht, dass ich sogar eine Naturstrasse vorgezogen hätte. Die entgegenkommenden Fahrzeuge, meist grosse Mercedes und Audis mit dunkel getönten Scheiben, fahren so schnell, dass ihr nahes Vorbeibrausen nicht nur beängstigend ist; der Lärm, den sie auf dem schlechten Belag verursachen, tut mir in den Ohren weh. Wenn sie von hinten kommen, fordern sie durch andauerndes Hupen, dass wir ihnen Platz machen, damit sie ihre ideale Linie fahren können. Die wenigsten verlangsamen ihre Fahrt. So wie uns begegnen sie auch Tieren auf der Strasse, die dann erschreckt zur Seite springen. Wir weichen wohl oder übel auf den Schotter und Sand am Rand aus.

Bis Bokonbaevo, dem grössten Ort südlich des Issikkul-Sees, sind wir zwar erst etwa 40 km gefahren. Doch es ist genug für heute. Wir übernachten im Bed&Breakfast von Klara, einer wie mir scheint ziemlich mürrischen Frau. Ich gewinne den Eindruck, dass wir ihr eher lästig sind. Wenn wir nicht so  müde und hungrig wären, würden wir wohl einen anderen Ort suchen. Inzwischen regnet es auch wieder, und wir sind froh, am Trockenen zu sein. Andere Gäste oder Verwandte der Besitzerin tauchen mit einer Wodkaflasche und Gläsern auf. Ich verstehe nicht, was sie sagen, doch eins ist sicher, ich habe heute keine Lust auf diese Art von Geselligkeit. Es ist wohl ihre Art, uns willkommen zu heissen. Ich lehne ab und verziehe mich ins Zimmer. Nachdem wir schon darum bitten mussten, dass die Betten angezogen werden, fällt auch das Essen eher minimalistisch aus. Wir machen die Erfahrung, dass nicht alle von C.B.T. und Kyrgyz Hospitality vermittelten Unterkünfte so vorbildlich geführt sind wie „unser“ B&B in Kochkor. Dort hätten wir uns noch lange wohlgefühlt. Diese Familie hat uns wirklich verwöhnt und uns fast jeden Wunsch von den Augen abgelesen. 

Am nächsten Tag bleibt das Wetter kühl, doch es hat aufgehört zu regnen. Als wir nach knapp 50 gefahrenen Kilometern in Tamga ankommen, hören wir Donnerrollen. Die ersten Tropfen fallen schon, aber wir erreichen das gesuchte Gasthaus eingangs Dorf, ohne nass zu werden. Von Nicole und Nik, die inzwischen ein paar Wochen und sicher weit über 1000 km vor uns reisen, haben wir die Adresse bekommen. Oberhalb des Dorfes könnte man eine buddhistische Ruine mit tibetischer Inschrift besichtigen, aber wir sind zu müde. Wieder einmal geniessen wir es, unter einer heissen Dusche das kühle und unfreundliche Wetter zu vergessen, ein umfangreiches Nachtessen serviert zu bekommen und uns in den Schlafsack zu hüllen, ohne vorher einen geeigneten Platz fürs Zelt suchen zu müssen.

Was ist denn das für ein imposantes Monument?

Jetzt trennen uns noch etwa 90 km von Karakol, der Hauptstadt der Provinz Issikkul. Fast den ganzen Tag fahren wir durch Pappelalleen. Die Strasse führt durch eine fruchtbare Ebene und ist sicher schon sehr alt, ebenso wie die hohen Bäume mit den dicken Stämmen. Auf den Feldern werden Kartoffeln, Zwiebeln, Weisskohl und Karotten eingebracht. Unterwegs begegnen uns grosse Erntemaschinen und vollbeladene Heuwagen. Manchmal winken uns die Fahrer oder die Leute auf dem Feld.

Während wir in dieser Gegend unterwegs sind, gehen mir Begebenheiten aus meiner Kindheit im Luzerner Seetal durch den Kopf. Diese Gedanken begleiten mich auf dem ganzen Weg, und ich bin erstaunt, wie deutlich ich mich an die Hausmatte in Altwis erinnern kann, an die Pappeln beidseits der Treppe zum Haus meiner Grosseltern, an den Zvieri mit Käse, Brot und Süssmost im Schatten eines Baumes, an das Auf- und Abladen des Heus. Eine Erinnerung weckt die nächste, während  meine müden Arme und Beine für das Velo einen Weg zwischen Löchern, Querrillen und weiteren Unebenheiten suchen.

Etwa 10 km vor Karakol passiert es: Reto hat einen platten Reifen. Wir halten am Strassenrand an einer Kreuzung mit ziemlich viel Verkehr. Niemand scheint uns zu beachten, keiner hält an.

Die Menschen in Kirgistan sind sehr viel zurückhaltender als z.B. in Iran. Das gibt uns das Gefühl, weniger willkommen zu sein. In gewissen Situationen ist es recht angenehm, wenn man einfach in Ruhe gelassen wird. Doch manchmal empfinde ich es befremdend, z.B. dann, wenn ich freundlich versuche, jemanden zu grüssen, aber überhaupt keine Reaktion darauf bekomme, oder wenn wir – wie jetzt – am Strassenrand stehen, und sich niemand für uns interessiert. Doch vielleicht verstehen wir diese Menschen falsch, vielleicht ist ihre Haltung eine Form von Respekt vor dem Fremden.

Reto hat inzwischen den Schlauch geflickt und wieder montiert, und wir fahren weiter. Ich komme nur langsam vorwärts, jede Unebenheit der Strasse bremst mich. Wir machen nochmals eine Pause, obwohl wir kurz vor unserem Ziel sind, und setzen uns auf einen Stein neben der Strasse. Schon bald hält neben uns ein in die Jahre gekommenes Lieferwägelchen. Ein lustiger Mann steigt aus und begrüsst uns. Ich verstehe seine Worte nicht, und doch begreifen wir sofort alles, was er sagen will und lebhaft mit Gesten untermalt. Seid Ihr müde? Habt Ihr Probleme? Wollt ihr mit mir weiterfahren? Soll ich Eure Fahrräder auf die leere Brücke laden? Möchtet Ihr in meinem Haus in Karakol schlafen? Auch als wir ablehnen, bleibt er freundlich. Er gibt uns die Hand, verabschiedet sich und fährt weiter.

Ich überprüfe meine Meinung über die Menschen in diesem Land und gestehe mir ein, dass ich bisher die schlechten oder unangenehmen Erfahrungen wohl zu stark gewichtet habe.

Uns bleiben nun noch vier Wochen, bevor wir nachhause fliegen. Es wäre schön, wenn ich diese Zeit mit der gleichen Begeisterung und Neugierde angehen könnten, wie die ersten Wochen unserer Reise. Auch wenn es mir nicht ganz gelingt, mindestens versuchen möchte ich es.

Noch wenig habe ich über unsere Probleme mit dem Zelt geschrieben. Hier der aktuelle Stand:

Nach mehreren Mails und SMS und tagelangem Ausharren erhielten wir in Kochkor endlich die erlösende Nachricht, dass wir ein neues Zelt bekommen werden. Im Gegensatz zur Firma Exped, welche uns lediglich Ersatzreissverschlüsse und -gleiter an unsere Adresse in Winterthur (!) schicken wollte, haben ein Filialleiter von Bächli Bergsport und ein Geschäftsführer von Spatz Camping unsere Situation erkannt und sich dafür stark gemacht, dass wir hier in Kirgistan so rasch als möglich Ersatz für das defekte Material erhalten. Das Paket mit neuem Zelt und Matten ist jetzt unterwegs nach Bishkek, und wir sollten es innerhalb von „2-5 Arbeitstagen“ abholen können. Unsere Hoffnung ist gross, dass das noch diese Woche sein wird, und dass wir anschliessend im Süden von Bishkek noch einmal über hohe Pässe in die Berge fahren können, ohne uns vor Wind, Regen, Schnee und Kälte fürchten zu müssen.

Hier noch ein paar Bilder der letzten Tage:

Eins von Retos Lieblingstieren

Wird sein Lieblingstier wohl verkauft?

Im ziemlich heruntergekommenen Thermalbad

In Jeti Ögüz

In einer Legende heisst es, die roten Felsen seien einst mächtige Bullen gewesen.

 

Eine Alpweide grad wie in der Schweiz, wenn da nicht die Jurte wäre.

 

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