Eine Totenfeier im Pankisi-Tal

Alter Khistenfriedhof bei Duisi im Pankisital

Da wir uns entschieden hatten, einen weiteren Tag bei Badi und Nata zu bleiben, hatten wir die Gelegenheit, an der Totenfeier für den verstorbenen Nachbar teilzunehmen, der zur Gemeinschaft der Khisten im Pankisi-Tal gehörte. Die Khisten sind Muslime, stellen jedoch ihre eigenen Traditionen über die Vorschriften ihrer Religion, die sie daher sehr frei interpretieren. So respektieren sie auch christliche Heiligtümer im Tal.

Badi und Nata hatten uns von der Totenfeier erzählt und nahmen uns ganz selbstverständlich mit. Mit uns strömten aus Duisi und den anderen Dörfern im Tal Leute in kleinen Gruppen zum Hof des Verstorbenen. In einem kleinen Nebengebäude waren die nächsten weiblichen Angehörigen versammelt und wehklagten laut hörbar. Im Innenhof sassen die anderen Frauen, gegen Hundert an der Zahl, auf improvisierten Bänken oder sie kauerten in Gruppen am Boden. Die meisten Männer warteten unterdessen auf der Strasse. Vereinzelt kamen auch sie in den Garten, hoben ihre Handflächen nach oben, murmelten Gebete und fuhren dann mit den Händen übers Gesicht, wie wenn sie sich die Sorgen abwischen würden. Sie würden später den Toten zum Friedhof tragen. Unter ihnen sehr alte Männer mit traditionellen Kopfbedeckungen und in Anzügen. Wieder andere in westlicher Alltagskleidung. Um zwei Uhr holten sie den Leichnam aus dem Haus. Nata erzählte mir, dass ihre Toten nicht angekleidet beerdigt würden, sondern eingehüllt in drei weisse Baumwolltücher. So wurde der mit weiteren farbigen Decken geschmückte Leichnam im Hof aufgebahrt. Um ihn herum standen die Männer der Sufi-Bruderschaft, wahrscheinlich die ältesten Männer des Tales. Sie begannen ihr Dikhr-Ritual, ähnlich wie wir es am Tag vorher erlebt hatten. Doch sind ihre Stimmen im Vergleich zu denen der Frauen viel feiner, schwächer, was auf ihr fortgeschrittenes Alter zurückzuführen ist. Die Gesänge selber sind fast die gleichen wie bei den Frauen. Zum Abschluss des Rituals im Hof würdigte der Älteste den Verstorbenen und erzählte aus dessen Leben. Dann hoben die Männer die Bahre in die Höhe und trugen den Toten aus dem Hof auf die Strasse. Zusammen mit den draussen wartenden Männern begaben sie sich zum Friedhof. Die Frauen dürfen nicht dabei sein, wenn ein Toter beerdigt wird. Erst als Nata mir sagte, dass man sie vor dem zu grossen Schmerz des Abschieds verschonen wolle, konnte ich ungefähr verstehen, warum die Männer ihre Toten alleine begraben. Unterdessen hatten die Frauen angefangen, der Witwe und den Kindern ihr Beileid auszusprechen.

Im Nachbarhof waren im Schutze von Planen gegen den drohenden Regen drei lange Tische aufgestellt worden, an jedem gab es für mehr als 30 Personen Platz. In Schichten hatten vorher schon die Männer gegessen, jetzt waren die Frauen an der Reihe. Badi zog uns mit sich. Reto war der einzige Mann unter all den Frauen, doch keine von ihnen schien Anstoss zu nehmen. Wir staunen immer wieder, wie unglaublich verständnisvoll die Menschen hier sind, sogar wenn wir uns ungeschickt und für sie fremd verhalten.

Brot, Käse, Salz und Kräuter waren schon auf dem Tisch verteilt. Als wir uns setzten, brachten junge Frauen kleine Schalen mit dampfendem Fleisch im Sud. Dazu gab es wieder Kazbegi-Limonade in allen Farben und Aromen. Gegessen wird mit den Händen, doch für uns brachte man Löffel. Reto weigerte sich standhaft, vom Fleisch zu essen, weil er einfach keinen Hunger mehr hatte. Mit ein wenig Brot und Käse hatte er genug. Für ihn wird es immer unerträglicher, von allen Seiten zum unmässigen Essen genötigt zu werden. Ich verstehe ihn gut. Nachdem unsere Gruppe gegessen hatte, wurde aufgeräumt und die nächste Schicht wurde verköstigt.

Bei solchen Anlässen wird sehr viel gegessen, insbesondere viel Fleisch. Von Nata wissen wir, dass bei einem Todesfall oder bei einer Hochzeit drei Tiere (Kühe oder Schafe) getötet werden. Dieses Fleisch wird dann beim Leichenmahl von den Gästen verzehrt. Sicher hat diese Tradition ihren Ursprung in rituellen Opfergaben. Alle Menschen, die wir hier getroffen haben, essen sehr gerne Fleisch. Umsomehr hat es uns gestern gefreut, als Nata für uns ein Nachtessen ganz ohne Fleisch zubereitet hat, weil sie weiss, dass wir zuhause nur selten Fleisch essen.

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