Chogias Mindi in Chevsureti

Die Erzählungen von Vasha Pshavela, welche uns schon zum Besuch des Pankisitals bewogen haben, locken uns auch nach Chevsureti im Hohen Kaukasus. Die Chevsuren hatten bis ins 19. Jahrhundert recht kriegerische Sitten und befanden sich im ständigen Kampf mit Volksgruppen von der anderen Seite des Kaukasus. Man klaute sich gegenseitig das Vieh (und ab und zu auch Frau und Kinder) und befand sich in einer endlosen Schlaufe von Rache und Vergeltung für vergangene Taten. Die überlebenden Verwandten hatten die Pflicht, Morde an ihren Angehörigen zu rächen. Dabei schlug man dem ermordeten Gegner die rechte Hand ab und hängte die Trophäe an die Hauswand. Der Aberglaube besagte, dass sich so der Tote nicht aus dem Jenseits rächen konnte. Im Kampf trugen die Chevsuren Helm und Kettenhemd. Was einen noch höheren Stellenwert als die Rache hatte, war die Pflicht zur Gastfreundschaft, die auch den Feinden gewährt werden musste. In Pshavelas Epos „Chogias Mindi“ wird erzählt, wie Mindi erfolglos versucht, aus diesem Kreislauf auszubrechen. Er bricht mit der Tradition und zahlt mit seinem Leben. Dieses rudimentäre Wissen über die Chevsuren war für uns Grund genug, uns die Nachfahren dieser Krieger aus der Nähe azusehen, und so radeln wir los in Richtung Hoher Kaukasus.

Um uns die Ausfahrt aus dem chaotischen Tbilissi zu ersparen, beschliessen wir, unsere Fahrräder für das erste Stück des Weges auf den Zug zu verladen. Als wir in der Morgendämmerung auf dem Bahnhof eintreffen, ist der Zug jedoch bereits voll belegt und die mitreisenden Polizisten, die in allen Metrostationen und Zügen auffällig präsent sind, verwehren uns anfänglich den Zutritt. Wir lassen uns nicht beirren und hieven die voll bepackten Räder in den Zug. Glücklicherweise sind die alten Wagons grosszügig dimensioniert, so dass wir die Velos im Mittelgang zwischen den Sitzreihen abstellen können, ohne die Mitreisenden und ambulaten Händlerinnen und Händler stark zu behindern. In der nächsten grösseren Stadt, Mtskheta, wollen wir aussteigen, doch wir täuschen uns und steigen eine Station zu früh aus. Diese liegt im Niemandsland. Vom langen Bahnsteig und dem zerfallenen Bahnhäuschen finden wir erst nach langem Suchen einen Trampelpfad, der uns durch Gebüsche auf eine Strasse führt. Von hier können wir die Fahrt aus eigener Kraft fortsetzen.

In Mtskheta, der alten Hauptstadt von Georgien, machen wir einen ersten Halt. Wir haben diese vielgerühmte Stadt bereits auf der Rückreise von Borjomi besucht. Jetzt in der Früh sind praktisch keine Leute auf der Strasse, und wir können uns nochmals ungestört umschauen. In der Nähe des wichtigsten Kirchenkomplexes treffen wir auf einen alten Mann. Er möchte uns verzweifelt etwas erklären. Er versucht es auf georgisch und russisch. Als er erkennt, dass wir nicht verstehen, ringt er verzweifelt nach französischen Worten, findet sie jedoch nicht. Zuletzt nimmt er unsere Hände, küsst sie und erbittet uns mit Blick auf das nahe Heiligtum den Segen des Himmels. Wir sind tief gerührt.

Auf der georgischen Heeresstrasse geht’s dann in nördlicher Richtung ebenaus weiter bis zur  Zianvali-Staumauer. Dort zweigt die Strasse nach Chevsureti ab und unser Puls verdoppelt sich, da es jetzt steil beraufwärts geht. Wiederum sind wir von wunderschönen Herbstwäldern umgeben, die uns die Anstrengung ein wenig vergessen machen. Manchmal sind wir vom Anblick so überwältigt, dass wir eine Pause einlegen und nur noch staunen. Ab und zu begenen uns Alpabzüge von Schafen oder Kühen. Es ist ein besonderes Gefühl, sich von einem Meer von Schafen umströmen zu lassen. Der kritische Moment kommt dann gewöhnlich am Ende der Herde, dort trotten die riesigen Herdenhunde hinterher. Es sind Gewaltshunde, die Ohren wie Bären haben. Zum Glück sind gewönlich auch Schäfer dabei, welche den Appetit der Hunde nach unseren Velofahrerwädli zurückbinden. Die Kuherden sind uns in dieser Beziehung bedeutend lieber, da sie gewöhnlich ohne Hunde unterwegs sind. Eine georgische Kuh ist wahrscheinlich den Urahnen dieses Tieres viel ähnlicher als eine schweizerische: Sie ist viel kleiner, schätzungsweise nur etwa halb so schwer und hat noch Hörner wie eine richtige Kuh.

Von Barisakho aus kündigen wir uns in einem Gemisch aus Georgisch und Englisch telefonisch im Guesthouse von Shota Arabuli an. In Korsha angekommen, warten wir erst einmal eine halbe Stunde, und als Shota und seine zwei Söhne ankommen, fühlen wir uns gar nicht willkommen. Wir wissen nicht einmal, ob wir am richtigen Ort sind und bleiben können. Die Leute scheinen uns zu ignorieren. Von der sprichtwörtlichen chevsuretischen Gastfreundschaft ist nichts zu spüren. Als dann glücklicherweise die Frau des Hauses – schon wieder eine Marina – eintrifft, wird die düstere Atmosphäre etwas aufgehellt, und wir können unser Zimmer im ungeheizten Nachbarhaus beziehen. Marina ist Direktorin der Schule des Tales und spricht ein wenig Englisch. Da für den nächsten Tag noch gutes Wetter angekündigt ist, versuchen wir einen Transport nach Shatili und Mutso zu organisieren. Für die Fahrt mit dem Fahrrad über den 2900 m hohen Pass, welcher Shatili mit Korsha verbindet, fehlt uns leider der Mut, umsomehr als wir auch wieder über den Pass zurück müssten. Für zwei mal gut 100 km mit jeweils 1500 Höhenmetern auf Naturstrasse sind wir (noch) nicht fit genug. So lassen wir uns vom Sohn unserer „Gastgeber“ gegen Bezahlung im Jeep kutschieren. Vorbei an Wehrtürmen welche der Bevölkerung bei Gefahr Schutz boten, führt eine immer steiler werdende Strasse Richtung Pass. Auf den Hintersitzen des Jeeps schweben wir irgendwo zwischen Sitz und Himmel des Fahrzeugs. Oben angekommen, stellen wir mit Erleichterung fest, dass der angekündigte Schnee wieder geschmolzen ist. Gleich steil wie rauf, führt die Strasse auf der anderen Seite des Passes wieder runter. Nach etwa drei Stunden Fahrt erreichen wir Shatili. Das Dorf liegt an einem Berghang, und die mehrgeschossigen Steinhäuser sind so angeordnet, dass sie eine Festung bilden. Untereinander sind die Häuser mit Brücken aus Knochen verbunden, um der Bevölkerung auch bei einer Belagerung den Wechsel von einem Haus zum anderen zu ermöglichen. Heute ist dieser Dorfteil nicht mehr bewohnt, die früheren Bewohner – ein paar wenige Familien – wurden in neu erstellte Häuser umgesiedelt. Von Shatili geht’s anschliessend weiter nach Mutso. Auch dieses ist ein Wehrdorf. Durch seine Lage hoch oben auf einem Felsturm wirkt es noch geheimnisvoller und fast geisterhaft. Würden wir den Weg in gleicher Richtung fortsetzen, gelängen wir doch noch in unser ersehntes Tusheti – aber dazu ist es zu spät im Jahr, und der Weg wäre auch für einen Jeep unpassierbar. Beim nächsten Mal werden wir’s auf irgend eine Geissart versuchen! Die Rückfahrt nach Korsha verläuft gleich holprig wie die Hinfahrt: Von all den Schlägen durch die Bocksprünge des Jeeps sind wir völlig weichgeklopft und froh. dass uns nicht alle Plomben aus den Zähnen gefallen sind.

Am Abend zeigt uns Shota das Museum, das er in einem Turm neben dem Haus eingerichtet hat. Es ist sehr eindrücklich, wie viele alte Fotos, Dokumente, Gebrauchsgegenstände und Waffen er zusammengetragen hat. Viele Kleider sind darunter, handgewebte schwarze Wollstoffe mit farbigen Streifen und kunstvoll bestickten Bordüren. Leuchtend weisse, rote, gelbe Kreuze und Sterne sind die wichtigsten Ornamente. Ausgestellt sind auch unzählige bunt gemusterte Socken und Kniestrümpfe.

In einem einem Buch über die Poesie aus den Bergen Georgiens finden sich Hinweise auf die Kultur und Eigenart der Chewsuren, u.a. auch über den Maler Shota, bei dessen Familie wir wohnten, ebenso über den Dichter Vasha Pshavela, auf den wir immer wieder stossen. Besonders schön ist auch die Beschreibung der gestickten und gestrickten Ornamente, die Bedeutung der Farben, Sterne und Kreuze. ( „… wenn du diese dunklen Farben der Chewsuren anschaust, bekommst du ein Gefühl für die chewsurischen Frauen, welche nicht einmal weinen durften, wenn sie ein Kind verloren. Es wäre eine Schande; es würde einen Mangel an Stärke offenbaren …“)

Wir werden nie erfahren, wie die Haltung dieser Gastgeber uns gegenüber wirklich war. Abweisend? Ablehnend? Desinteressiert? Zurückhaltend? Scheu? Selbstbewusst? Arrogant? In keinem anderen Ort haben wir diese Unsicherheit unserer Gefühle stärker empfunden als in Korsha. Obwohl wir uns sehr auf dieses weit abgelegene und nur schwer zugängliche Tal gefreut hatten, waren wir nicht unglücklich, es wieder zu verlassen. Vielleicht begegnen uns beim nächsten Mal in Chewsureti Menschen, die wir besser verstehen, so wie wir im restlichen Georgien so oft Frauen und Männern begegnet sind, die uns mit ihrer überwältigenden Grosszügigkeit und Gastfreundschaft beeindruckt haben. 

 

 

 

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Mit dem Zug nach Bakuriani durch die herbstlichen Wälder

Von Borjomi nach dem etwa 800 m höher gelegenen Bakuriani gibt es eine Verbindung mit einem schnuggeligen Züglein. Die Schmalspurlinie führt in unzähligen Windungen durch Weideland und lichte Mischwälder. Ende Oktober strahlen die Bäume in leuchtender, herbstlicher Farbenpracht. Das beschauliche Fahrtempo, das etwa unserer Geschwindigkeit mit dem Fahrrad entspricht, lässt uns diese Schönheit ausgiebig und in aller Ruhe geniessen.

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