Wiedersehen in Campoo

1968 war ich zum ersten Mal in Spanien und darauf verbrachte ich ein paar Jahre lang jeden Sommer Ferien in Campoo. So heisst die Gegend in der Provinz Cantabria – früher Santander – im Norden Spaniens. In den Picos de Europa und Tres Mares entspringen drei grosse Flüsse: einer fliesst zum Atlantik, einer in den Golf von Biscaya und der bekannteste, der Ebro, ins Mittelmeer.

Als wir am Nachmittag auf dem Bahnhof in Reinosa ankommen, sind meine Erwartungen gross. Wir beladen die Velos, fahren los und suchen die Herberge, in der wir uns gestern telefonisch angemeldet haben. Doch der Eingang ist geschlossen, und als ich erneut anrufe, erfahre ich, dass erst am Abend wieder jemand da sei. Also machen wir uns auf die Suche nach einer anderen Unterkunft und kommen nach vielem Fragen zum 1-Stern-Hotel Ruben. Es wird von einer freundlichen Frau geführt. Sie hilft uns sogar, bis all unser Gepäck im Zimmer verstaut ist und macht uns im Aufenthaltsraum Platz für die Velos.


Natürlich hat sich Reinosa in all den Jahren seit meinem letzten Aufenthalt vor über 40 Jahren verändert und ist viel grösser, als ich es in Erinnerung hatte. Der alte Kern ist jetzt autofrei. Gegen Abend unternehmen Reto und ich eine Spazierfahrt und gehen etwas trinken. Casera, ColaCao, clarete, cortado, Veterano, sol y sombra … ein Getränk nach dem anderen kommt mir wieder in den Sinn. Ob es sie noch gibt? Ja, und auch die dunklen Cantinas, in denen die Männer Karten spielen oder an der Bar diskutieren. Der für morgen angekündigte Generalstreik gibt viel zu reden. Hier scheint der Streik mehr Beachtung zu finden als der vor ein paar Wochen in Portugal. Im Restaurant. wo wir essen gehen, hängt ein Hinweis an der Türe, dass ihre Angestellten morgen einen Ferientag bekommen. Das entbindet die Besitzer elegant von der Auseinandersetzung mit dem Streik.

Ich erkundige mich an ein paar Orten nach Nunchi und Amado, die damals in Reinosa wohnten. Sie müssten etwa in meinem Alter sein. Doch niemand scheint sie zu kennen.

Aber am nächsten Morgen geht dann alles ziemlich schnell. Ich erzähle der Besitzerin des Hotels von meinen früheren Besuchen in der Provinz Santander, und es stellt sich heraus, dass eine Angestellte in der gleichen Überbauung wie Nunchi wohnt. Mit dem Velo fahre ich hin und finde auf Anhieb die Adresse. Die Überraschung ist riesig. Wer hätte gedacht, dass wir uns nach so langer Zeit wieder treffen würden! Von Nunchi erfahre ich, dass ihre Mutter noch immer im Dorf Entrambasaguas lebt, zusammen mit Uca, Nunchis Schwester. Doch es gibt auch traurige Nachrichten: Carlos, der jüngste Bruder, sei vor kurzem gestorben.

Zurück im Hotel erzähle ich Reto von meiner Begegnung, und wir beschliessen, sofort hinauf nach Campoo zu fahren. Schon in Nestares machen wir Zwischenhalt und statten Pedro und Veli, welche Anfangs der 70er Jahre in Zürich gelebt haben, einen Besuch ab. Wir bewundern das Rennvelo von Pedro, mit dem er früher gerne Ausfahrten zusammen mit seinem Schwager Aniano machte. Es ist traurig, dass er jetzt nicht mehr selber in sein Dorf hinauf fahren kann, da er unter Parkinson leidet.

Dann fahren wir weiter über Fontibre, Espinilla, vorbei an der Abzweigung nach Celada, wo eine der Grossmütter lebte, vorbei auch am Wegweiser nach Abiada, wo die anderen Grosseltern herstammten. In Riaño bei der „romanischen“ Brücke soll es jetzt neben zwei Ausflugsrestaurants auch einen Campingplatz geben. Dieser ist zwar noch nicht offiziell geöffnet, doch die Tore sind offen, und so stellen wir nahe am Fluss unser Zelt auf.

Von hier ist es nur noch etwa 1 km bis zum Dorf Entrambasaguas. Wenn man den direkten Weg zwischen den Feldern und über den Friedhof nimmt, hat sich fast nichts geändert. Als ich vor der Türe stehe und „Ucaaaa“ rufe, klopft mir das Herz bis zum Hals. Ob sie sich wohl an mich erinnert? Ein Mann kommt ans Fenster. Es ist Ucas Mann Esteban, den ich nicht sofort wiedererkenne. Als ich ihm meinen Namen nenne, geht’s nicht lang, und Uca kommt nach unten. Wie schön, sie nach so vielen Jahren wieder zu sehen und zu umarmen.

Wir gehen hinauf in die Küche, wo wir Anuncia, ihre betagte Mutter begrüssen. Noch kleiner wirkt sie jetzt auf mich. Auch kann sie kaum mehr alleine gehen. Wenn Uca nicht wäre und ihr bei allen täglichen Verrichtungen beistünde, sie hätte schon lange das Dorf verlassen müssen und könnte nur noch in einem Pflegeheim leben.

Die Zeit vergeht viel zu schnell, Esteban muss wieder in den Stall zu den Tieren, und auch auf Uca wartet Arbeit. So verabreden wir uns auf morgen. Uca lädt uns zu einem späten Frühstück ein.

Wir verabschieden uns und nehmen den inzwischen asphaltierten Bergweg nach Mazandrero unter die Räder. Oberhalb des Dorfes ist eine Wander- und Mountainbike-Route ausgeschildert, der wir ein Stück weit folgen. Prächtig ist von hier oben der Ausblick auf die verschneiten Berge, auf das Dorf unten im Tal, auf die Mühle, auf den Bach, wo die Frauen früher grosse Wäsche wuschen und sie auf den Wiesen zum Trocknen ausbreiteten.

Das Dorf Mazandrero scheint ziemlich verlassen. Die meisten Höfe mit ihren schönen alten Wappen über dem Eingang sehen frisch renoviert zu sein. Wahrscheinlich werden sie nur noch als Ferien- oder Zweitwohnung von Leuten genutzt, die das Dorf längst verlassen haben und inzwischen in Reinosa, Santander oder Madrid wohnen und arbeiten. Es ist wohl wie in den Schweizer Bergen, wo die Bergdörfer verlassen werden.

Am Wegrand pflücke ich Blumen für ein Sträusschen. Den Frühling habe ich in diesem Tal noch nie erlebt. Ich staune, dass es hier die dunkelgelben Primeln („Madedäneli“) gibt, die mir in meiner Kindheit im Seetal immer so gut gefallen haben. Auf den Wiesen wachsen auch eine Art kleiner Osterglocken. Von Uca erfahre ich dann, dass diese hier “bragas de cucu” (Kuckuckshosen) genannt werden. So lustig!

Am nächsten Morgen brechen wir früh das Zelt ab und machen uns reisefertig. Doch bevor wir über den Puerto de Palombera weiterfahren, besuchen wir nochmals das Dorf Entrambasaguas, wo wir von Uca bereits zum Frühstück erwartet werden. Wieder werden wir aufs herzlichste begrüsst. Wir nehmen in der Küche Platz, geniessen Milchkaffee und Spiegeleier. Uca erzählt uns vom Leben im Dorf und von ihrer Arbeit und erkundigt sich nach meiner Familie. Wie gut sie sich nach so langer Zeit erinnern kann! Anuncia nimmt regen Anteil an unserem Gespräch. Auch wenn sie selber nicht viel sagt, ihre wachen Augen leuchten mal vor Freude, mal kommen ihr Tränen, wenn Uca von traurigeren Erlebnissen erzählt. Doch immer wieder blitzt der Schalk in ihren Augen auf, ganz wie früher, und wir lachen über lustige Begebenheiten aus der Vergangenheit. Stolz erzählt sie von den kunstvollen Handarbeiten, die Uca im Winter anfertigt. Wir bestaunen die bunten Bilder, die aus Tausenden von feinsten Kreuzstichen in über Hundert Farben entstanden sind.

Wie schön wäre es, ein wenig mehr Zeit miteinander zu verbringen. Doch vielleicht sehen wir uns ja wieder einmal, in Campoo oder vielleicht sogar bei uns in Winterthur. Wer weiss, es wäre ja nicht das erste Mal, dass Uca ein paar Tage Ferien in der Schweiz macht.

Auch wenn mir der Abschied schwer fällt, so bin ich nach diesem Besuch doch von einer grossen Zufriedenheit erfüllt. Es ist, wie wenn sich ein weiter Kreis geschlossen hätte, und ich nehme schöne neue Erlebnisse mit nachhause.

Jetzt macht mir die Weiterreise durch Campoo und über den Palombera-Pass nach Cabezón de la sal erst recht Freude, und ich geniesse in vollen Zürgen das Velofahren mit Reto durch diese friedliche Berglandschaft und die kühlen Wälder mit ihren glitzernden Bächen und den vielen Blumen am Wegrand.

Hier noch ein paar Fotos von ca. 1968:

 

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